Wie die Kunst von „Außenseitern” langsam aus der Nische in den Mainstream drängt und die etablierte Kunstwelt herausfordert.
Der Begriff “Outsider Art” bezeichnet keine spezifische Kunstrichtung oder Stilrichtung. Sein wesentliches Merkmal ist, dass er außerhalb des etablierten Kunstbetriebs und unabhängig von Kunstgeschichte und -tradition existiert. Dieser Begriff geht auf das Buch des englischen Kunsthistorikers Roger Cardinal (1940-2019) aus dem Jahr 1972 zurück und wurde ursprünglich als englisches Synonym für “Art Brut” unter Dubuffets (1901-1985) Zustimmung verwendet. Er verbreitete sich schnell weltweit, auch im deutschsprachigen Raum. Anfangs hielt man sich streng an die Definition von “Art Brut”, aber im Laufe der Zeit hat sich dieser Begriff verändert und erweitert.
Die flexible und weniger festgelegte Bezeichnung “Outsider Art” geht heute über den starren Begriff von “Art Brut” hinaus und umfasst ein breiteres Spektrum. Sie ergänzt oder ersetzt gewissermaßen das veraltete Dogma von “Art Brut”, obwohl die beiden Begriffe heute oft synonym verwendet werden. Heutzutage umfasst “Outsider Art” naive Kunst, zeitgenössische Volkskunst, ethnische Kunst sowie Werke von ungeschulten, aber talentierten Amateuren, Autodidakten, Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen und Erfahrungen in der Psychiatrie. Neben den bekannten Begriffen “Art Brut” und “Outsider Art” gibt es weitere Bezeichnungen wie “Zustandsgebundene Kunst”, “Self-taught Art”, “Folk Art”, “Raw Art”, “Art Singulier”, “Vernacular Art” und “Visionary Art”. Diese Vielfalt an Begriffen zeigt, dass es keine eindeutige Definition gibt, die die Komplexität und Vielschichtigkeit der Kunst von Außenseitern vollständig erfassen könnte. Alle diese Definitionen sind unvollkommen und umstritten, aber es steht außer Frage, dass außerhalb des Mainstreams ungewöhnliche Werke von hoher künstlerischer Qualität existieren, egal wie man sie benennt.
„Outsider sind Menschen, die außerhalb der Norm agieren”
Outsider sind Menschen, die aus verschiedenen Gründen außerhalb der Norm agieren, sich nicht an gesellschaftliche Wertmaßstäbe halten und den sozialen Anforderungen nicht entsprechen. Sie werden oft als Randfiguren betrachtet: gesellschaftlich unangepasste Individuen, Einzelgänger, Einsiedler, Sonderlinge, Gefängnisinsassen sowie Menschen mit psychischen oder intellektuellen Beeinträchtigungen und neurodiverse Personen. Diese Außenseiter bilden eine vielfältige Gruppe, die an verschiedenen Orten lebt und oft nichts voneinander weiß. Was sie verbindet, ist der Mangel an Unterstützung, Lobby, öffentlicher Anerkennung und finanzieller Förderung im Gegensatz zu professionellen Künstlern. Die meisten von ihnen können ihre künstlerische Identität selbstbestimmt zu behaupten und sich gegen Diskriminierung wehren. Sie haben, von wenigen Ausnahmen wie Rousseau,Wölfli, Aloise und Darger abgesehen, keine Möglichkeit, am Mainstream-Kunstbetrieb teilzunehmen.
Im Gegensatz zu Berufskünstlern arbeiten Outsider abseits von Akademien, Museen und Mainstream-Galerien, oft ohne formale künstlerische Ausbildung. Sie sind unbeeinflusst von akademischen Vorgaben und arbeiten spontan und unvoreingenommen. Für sie steht nicht die Kunstproduktion oder kommerzielle Interessen im Vordergrund, sondern die kreative Ausdrucksform ihrer eigenen inneren Nöte, Fantasien, Obsessionen und Visionen. Sie malen und zeichnen primär für sich selbst, aus einem inneren Drang heraus. Der künstlerische Prozess ist für sie wichtiger als das fertige Werk. Ihre fantasievollen Werke zeugen von künstlerischer Schöpferkraft, Ursprünglichkeit, Authentizität, unverfälschter Spontaneität, Unmittelbarkeit und Radikalität der Bildsprache. Ihr Repertoire umfasst Zeichnungen, Malereien, Collagen, Grafiken, plastische Arbeiten und Architektur. Oft verwenden sie gefundene Materialien wie Rückseiten von Werbeplakaten, Packpapier, Abfallpapier, Wandtapeten, Einkaufstaschen oder Briefumschläge. Die künstlerischen Fähigkeiten und die kreative Vielfalt der Outsider stehen denen professioneller Künstler in nichts nach.
Oft als „unkünstlerisch” abgetan und ignoriert
Für lange Zeit blieb die Bedeutung dieser eigenwilligen Kunst, abgesehen von einem kleinen Kreis von Interessierten und Sammlern, der breiten Öffentlichkeit verborgen. Das Kunstetablissement hatte Schwierigkeiten, diese Kunst einzuordnen und anzuerkennen. Sie wurde oft als “unkünstlerisch” abgetan und ignoriert. In Kunstgeschichtsbüchern wurde sie kaum erwähnt. Auch die noch so gut gemeinten Definitionen Art Brut und Outsider Art verstärkten die Isolierung und Ausgrenzung dieser Kunst zusätzlich. Und so setzte sich die willkürliche Trennung zwischen Insidern und Outsidern fort. Diese Zweiteilung ist aber weder gerecht noch angemessen, da beide aus derselben kreativen Quelle schöpfen.
Zudem wurde versucht, direkte Verbindungen zwischen den individuellen und sozialen Merkmalen der Künstler und ihrer Kunst herzustellen, was die künstlerische Bewertung einschränkte und den Blick auf das Werk selbst verstellt.
Glücklicherweise ändert sich die diskriminierende Haltung des Kunstetablissements langsam, während das Interesse an Outsider-Kunst in der Öffentlichkeit wächst. Eine neue Sichtweise auf die Kunst von Außenseitern entsteht, die sie nicht mehr als kuriose Randerscheinung betrachtet, sondern als eigenständiges, authentisches, innovatives und kreatives Phänomen würdigt. Immer mehr Menschen weltweit fühlen sich von der Outsider Art angezogen und lassen sich von ihrer Faszination einfangen. Die Zahl der Kenner, Liebhaber und Sammler wächst stetig. Es gibt mittlerweile einen florierenden Sekundärmarkt für Outsider Art, der durch Kunstmessen in New York, Paris und Auckland weiter expandiert. Diese globale Kommerzialisierung hat Vor- und Nachteile, aber Ausstellungen, Workshops, Medienberichte, Publikationen und spezialisierte Galerien tragen zur wachsenden Akzeptanz bei.
Die Zahl der Kenner, Liebhaber und Sammler wächst stetig
Angesichts des sich ändernden öffentlichen Bewusstseins und des steigenden Interesses an Outsider Art beginnen wichtige Institutionen der Kunstwelt und Fachleute, ihre Beziehung zu dieser Kunst neu zu überdenken und ihr mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Einige Mainstream-Museen, darunter die Documenta in Kassel und die Biennale in Venedig, betrachten die Werke von Außenseitern nicht mehr als exotisch, sondern als Kunst unter ästhetischen Gesichtspunkten und öffnen ihre Türen zögerlich für Sonderausstellungen. Outsider Art rückt langsam näher an die etablierte Kunst heran und drängt aus der Nische in den Mainstream. Diese positive Entwicklung wirft die Frage auf, ob sie nachhaltig ist oder nur ein vorübergehendes Phänomen des Zeitgeistes darstellt. Die künstlerischen Wertmaßstäbe, die sich ständig ändern, lassen hoffen, dass die Outsider Art gleichberechtigt in den Kunstkontext des 21. Jahrhunderts integriert wird, ohne weiterhin isoliert zu bleiben. Turhan Demirel