Der erste Eindruck: ein bisschen Chaos und viele Hunde – und ein traumhaft gelegenes Haus in Neugraben. Am Ende einer Straße mit Eigenheimen, nur rund 100 Meter vom Naturschutzgebiet Fischbeker Heide entfernt. Pippi Langstrumpf könnte hier wohnen in dieser Villa Kunterbunt der speziellen Art. „Wir, die vitaCurare GmbH, haben ein innovatives Konzept entwickelt, das die Themen Wohnungsnot, Fachkräftemangel und die Schwierigkeiten bei der Arbeits- und Beschäftigungssuche von psychisch erkrankten Menschen aufgreift. Die deutschlandweit einzigartige Lösung heißt ,familienähnliche Assistenz- und Pflegewohngemeinschaft’“. So hatte es der Träger des Pilot-Modells in seiner Mail beschrieben. Konkret heißt dies: Hier leben zwei psychisch erkrankte Menschen, von denen eine die andere pflegt – während beide professionell ambulant sozialpsychiatrisch betreut werden. Und das gemeinsam mit einem fitten 80-Jährigen unter einem Dach, dem sonst die Obdachlosigkeit gedroht hätte.
„Etwas ist anders mit mir“
Es begann mit Stefanie Viol, 41. Sie sagt über sich, sie brauche Menschen an ihrer Seite mit der Bereitschaft, „mein Chaos zu akzeptieren“. Sie hat Suizidversuche und Drogenkonsum hinter sich, bei ihr wurde Borderline diagnostiziert, „eventuell gepaart mit ADHS“. Sie sei gut medikamentös eingestellt, sagt sie. Ihre drei Kinder leben bei der Oma bzw. dem Vater. „Etwas ist anders mit mir“, sagt sie. Sie wirkt sehr selbstreflektiert, sie hat ja auch schon eine Menge Therapie hinter sich. Und dass sie sich mit Hunden besser versteht als mit Menschen, sagt sie auch. Ihr eigener, großer heißt Ronja, dann ist da noch ein kleiner von Freunden, später gesellt sich noch der Therapiehund Paula von vitaCurare dazu. Tagesbetreuung für Hunde will sie mal anbieten, das ist ihr beruflicher Plan. Sie hat nur Hauptschulabschluss und keine Ausbildung.
Frau G. wollte niemand haben und war zuletzt in einem Hotel untergebracht
Aber erstmal kümmert sie sich nun um Frau G.. Von der hörte sie, als sie bei vitaCurare andockte, von wo aus sie schon damals ambulant betreut wurde, während sich ein schwieriges Verhältnis zum Vermieter ihrer alten Wohnung immer weiter zuspitzte. Die vitaCurare, Pflegedienst und Träger ambulanter Eingliederungshilfeleistungen, hatte auch die Betreuung von Frau G., Mitte 50, übernommen. Ein besonderer Fall: seit 20 Jahren in Einrichtungen untergebracht, chronisch-paranoide Schizophrenie, zuletzt sechs Jahre in verschiedenen Kliniken. Schon dort zerstörte sie Sachen. Ein Versuch in einem Heim scheiterte. „Niemand wollte sie haben“, sagt Marco Hellmann, Geschäftsführer der vitaCurare GmbH. Zuletzt war Frau G. in einem Hotel untergebracht, wo sie Mobiliar zerstörte, nachts rumschrie – und schließlich gekündigt wurde.
„Wenn Bedarf da ist, denke ich mir was aus, um den Bedarf zu decken“, erklärt der gelernte Sozialpädagoge und Geschäftsführer, wie es dann zu dem Wohnprojekt kam. Nachdem Stefanie Viol im Internet das Haus gefunden hatte und bei erster Besichtigung total begeistert war, schloss er einen Gewerbemietvertrag mit der Vermieterin – um dann an die Klienten unterzuvermieten.
Die Vermieterin – eine inzwischen in Tschechien lebende Sexualtherapeutin – sei begeistert von dem Projekt gewesen, berichtet Hellmann. „Da griffen offenbar mehrere Zahnrädchen ineinander.“ Dazu gehört auch Herr S., ein Bekannter von Stefanie Viol, der ebenfalls ohne Wohnung dazustehen drohte und die Unterkunft nun mit seiner Rente mitfinanziert.
Im Gepäck: 40 Dosen Energydrinks und ein paar Kleidungsstücke
Viol war die erste, die schon Mitte Februar einzog, zunächst auf einer Luftmatratze schlief und erstmal das Haus durchputzte. Für Frau G. ging man dann gemeinsam mit dem gesetzlichen Betreuer in besondere Vorleistung. Ihr wurde der Traum von einem besonders breiten Bett mit rosa Bezug erfüllt. „Fand sie toll“, so Hellmann. Außerdem bekam die TV-Vielseherin eine mediale Neuausrüstung aus Handy, Tablet und TV. Selbst brachte sie aus dem Krankenhaus nur 40 Dosen Energydrinks und ein paar Kleidungsstücke mit in ihr neues Zuhause. Anfangs ernährte sie sich mit „Essen auf Rädern“, inzwischen lässt sie für sich einkaufen und bereitet sich einfache Mahlzeiten selbst zu. „Sie macht ganz kleine Fortschritte“, berichtet Stefanie Viol. Mitunter sei es schwer, sie aus dem Bett und zum Duschen zu locken. Aber es gehe immer besser. Aggressionen habe sie hier noch nie gezeigt und nichts zerstört. „Es funktioniert gut“, sagt Viol. „Es gibt immer Sachen, mit denen man nicht gerechnet hat, aber man findet Lösungen.“ Die nächtlichen Schreie der Frau, die mal von Todesspritzen, mal davon spricht, lebendig begraben zu werden, bleiben, die nimmt sie in Kauf. „Ich werde wach, es kann ja auch was sein, im Zweifel würde ich den RTW rufen“, erklärt Viol. Dann schlafe sie wieder ein.
Tagsüber von 8 bis 20 Uhr ist vitaCurare erreichbar. Für den Notfall hat sie Hellmanns Handynummer. Die konnte sie nutzen, als sie vor einigen Wochen selbst zum Notfall wurde. Sie hatte ihre Medikamente abgesetzt, es folgte – trotz eingeübter Selbsthilfe von Joggen bis Boxsack – ein „emotionaler Zusammenbruch“. Der sei aber schnell überwunden gewesen, versichert sie, sie führe es vor allem auf Selbstvernachlässigung zurück. „Ich kann mich um alles kümmern, aber ich vergesse mich selbst dabei.“ Geschult werden soll sie jetzt über eine Ausbildung zum Ersthelfer psychische Gesundheit.
Appell: „Bedarfsgerechte Projekte schaffen, mehr wagen, kreativ sein”
Und was sagt die Wohn-Pflege-Aufsicht zu dem Modell? Sie erklärte eigentlich nur ihre Nichtzuständigkeit. Denn mit nur zwei Nutzerinnen handele es sich bei der Assistenz- und Pflegewohngemeinschaft nicht um eine WG oder eine Wohnassistenzgemeinschaft im Sinne des Hamburgischen Wohn- und Betreuungsqualitätsgesetzes (HmbWBG). Das Gesetz greift erst ab drei auf Betreuung angewiesenen volljährigen Menschen.
Ein Modell zum Nachahmen? Das Projekt sei sicher nicht 1:1 übertragbar, meint Marco Hellmann. Es hänge vor allem daran, dass Menschen zusammenpassen müssten. Sein Appell lautet allgemeiner: „Bedarfsgerechte Projekte schaffen, mehr wagen, kreativ sein.“
Kreativ wirkt auch der Garten. Während auf der Terrasse Gasgrill, Wäscheständer und manch anderes ein buntes Durcheinander bilden, warten ums Eck Hühner der Rasse „Showgirl“ und „Seidenhuhn“. Den Stall baute Hellmann mit seiner Familie. Schräg gegenüber gibt ein abgedecktes rundes Plastikgebilde Rätsel auf. „Das ist der Whirlpool von Herrn S.“, sagt Marco Hellmann. Die Stromnachzahlung war anfangs wohl auch nicht einkalkuliert … Neuland eben. Dies gilt auch für die Nachbarn, denen mitgeteilt wurde, dass ihre neuen Nachbarn zu einem sozialen Projekt gehören. Deren Reaktion war verschieden. Während es mit einem älteren Paar wegen des Hundes nicht so gut lief, klappt es mit den direkten Anwohnern offenbar gut. Von dort kommen ab und an auch die Kinder rüber. Und wenn sie im Urlaub sind, darf Stefanie Viol Pflanzen in deren Garten gießen.
Anke Hinrichs (Originalveröffentlichung im EPPENDORFER 5/23)