Cannabis: „Geringe
Aussagekraft”

Das Geschäft mit dem Anbau von Cannabis für medizinische Zwecke boomt, während es an aussagekräftigen Studien mangelt. Foto: unsplash

 Wo und wie wird Cannabis in der Medizin eingesetzt? Vor allem Schmerzen werden mit Cannabisarzneien behandelt (76,4 Prozent), gefolgt von Spastiken (9,6) und Anorexie (5,1). In 14,5 Prozent der Fälle lag eine Tumorerkrankung vor, in 5,9 Prozent multiple Sklerose. Das geht aus dem Abschlussbericht des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zur Begleiterhebung von Cannabis in der Medizin hervor, dessen Aussagekraft allerdings von Experten in Zweifel gestellt wird.

Von  offenbar fehlender Repräsentativität spricht der Präsident der Deutschen Schmerzgesellschaft e.V., Prof. Dr. Winfried Meißner aus Jena. Angesichts von 16.800 Datensätzen bei wohl mehr als 70.000 Behandlungsfällen „sowie 52 Prozent Anästhesisten (=Schmerzexperten) in der Begleiterhebung, obwohl im Alltag aber Allgemeinmediziner die häufigsten Verschreiber sind – sind Aussagen zu Effektivität und Nebenwirkungen nicht wirklich möglich”, kommentierte er den Bericht auf Anfrage der Science Media Center Germany gGmbH (SMC).

  Psychiatrische Erkrankungen – aber auch viele andere Störungen –  spielen in dem Bericht nur eine sehr untergeordnete Rolle, machte Prof. Dr. Kirsten Müller-Vahl, Oberärztin und Leiterin der Arbeitsgruppe „Tourette“ an der Universitätspsychiatrie Hannover, in einer weiteren Stellungnahme deutlich. Als Grund sieht sie:  Kostenübernahmeanträge bei psychiatrischen Indikationen würden  …  sehr häufig abgelehnt – „mit der Begründung, die Leiden seien nicht schwerwiegend genug, es stünden andere Therapien zur Verfügung oder es fehle an Evidenz für die Behandlung“. Auch sie kritisiert: Die Aussagekraft des Berichts sei „leider extrem gering“. 

Bericht dient als Entscheidungsbasis für Kostenübernahme weiterer Therapieansätze

Die Erhebung dient vor allem dem Gemeinsamen Bundesausschuss als Entscheidungsgrundlage für eine mögliche Kostenübernahme weiterer Therapieansätze mit Cannabinoiden. In den meisten Fällen (62,2 Prozent) verordneten die Ärztinnen und Ärzte den Wirkstoff Dronabinol, zum Beispiel als in der Apotheke hergestellte Rezeptur oder als Fertigarznei, gefolgt von Cannabisblüten (16,5) und -extrakten (13). Typische Nebenwirkungen wie Müdigkeit, Schwindel, Schläfrigkeit und Übelkeit traten bei der Verwendung aller Cannabismittel häufig auf. Schwerwiegende Nebenwirkungen wie Depression (1,2 Prozent), Halluzinationen (0,7) und Sinnestäuschungen (0,6) kamen selten vor.

Prof. Dr. Kirsten Müller-Vahl bedauert: In ihrer Tourette-Spezialambulanz würden in jüngster Zeit fast alle Kostenübernahmeanträge abgelehnt, während vergleichbare Anträge in der Vergangenheit bewilligt worden seien.  „Richtig ist zwar, dass die Datenlage für die Wirksamkeit Cannabis-basierter Medikamente bei psychiatrischen Erkrankungen bis heute gering ist. Allerdings können wir vielen unserer Patient:innen nur begrenzte Therapieangebote machen.“ So sei etwa für die Behandlung von Tics überhaupt nur ein einziges Medikament offiziell zugelassen, welches heute wegen schwerwiegender Nebenwirkungen gar nicht mehr empfohlen werde. „Es ist daher sehr bedauerlich, dass die Krankenkassen durch eine Ablehnung der Kostenübernahmen neue, innovative Therapien verhindern.“

Cannabisblüten: „Es wird ja suggeriert, dass sich hier Kiffer ein Rezept abholen”

Das Bundesinstitut weist auf eine Besonderheit im Zusammenhang mit der Verschreibung von  Cannabisblüten hin. Diese würden „hauptsächlich von Hausärzten besonders jüngeren Männern verschrieben und weisen im Vergleich zu Dronabinol eine 16-fach höhere mittlere Tagesdosis an Tetrahydrocannabinol (THC) auf, dem Hauptwirkstoff der Cannabispflanze“. Die Blüten werden meist mittels eines Verdampfers inhaliert, wodurch es zu einer sehr schnellen Anflutung von THC im Blut kommt – aber ebenso auch zu einer schnellen Abflachung der THC-Spiegel. Es stelle sich daher die Frage, schreibt das BfArM, inwiefern eine „andere Art der Wirkung“ eintritt, als es bei den anderen Cannabisarzneimitteln der Fall sei, zeigt man sich besorgt. 

 „Es wird ja suggeriert, dass sich hier Kiffer ein Rezept abholen. Das halte ich in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle für unzutreffend“, widerspricht Dr. Oliver Tolmein,
Fachanwalt für Medizinrecht und Honorar-Professor an der Juristischen Fakultät, Georg-August-Universität Göttingen.  Es gebe gute Gründe, auf Blüten zu setzen und nicht auf synthetisierte Cannabisprodukte: „ Blüten wirken anders und in etlichen Fällen auch besser. Für dieses Phänomen gibt es bisher nur wenige Antworten, aber es gibt ja auch viel zu wenig Forschung.“

Die Kassen aber würden synthetische Cannabisprodukte bevorzugen und  Verordnungen  am ehesten in der Schmerztherapie zulassen; „sehr selten dagegen zum Beispiel bei ADHS oder posttraumatischen Belastungsstörungen, beides aber häufige Krankheitsbilder bei den Patienten, die Cannabis benötigen. Ich vertrete knapp ein Dutzend ehemaliger Soldaten, die psychische Störungen entwickelt haben. Und Cannabis hilft ihnen.“

Wenn man die Diskussion um die Freigabe von Betäubungsmitteln für Zwecke der Selbsttötung betrachtet, steuere man auf das Paradoxon zu, „dass jeder Anspruch haben soll, sich qualifiziert beraten zu lassen, wie er sich mit Betäubungsmitteln selbst oder mit ärztlicher Hilfe töten kann.Aber eine flächendeckende Struktur, die ermöglicht, dass sich jeder Patient qualifiziert, beraten lassen kann, wie ihm Cannabis helfen kann und wie er es bekommen kann, das geht nicht.“ (rd/SMC)