Nilüfer Türkmen hat ihre frühen Kinderjahre mit einer schizophren erkrankten Mutter verbracht und darüber ein berührendes Buch geschrieben. Die Bremer Studentin hat türkische Wurzeln und kam mit neun Jahren in ein Heim. Heute – viele Therapien später – sagt sie: „Ich liebe meine Mutter. Inzwischen habe ich aber gelernt, mich auch abzugrenzen.“ Dennoch telefoniert sie beinah täglich mit ihrer Mutter, die mittlerweile in einem Heim für betreutes Wohnen lebt. Karolina Meyer-Schilf hat die 23-Jährige, die aktuell mit drei Lesungen durch den Norden tourt, im vorigen Jahr zum Gespräch getroffen.
Was fragt man eine junge Frau, die ihre ersten neun Jahre allein mit ihrer schizophrenen Mutter verbracht hat? Die täglich daneben saß, während ihre Mutter Gespräche mit dem Spion in der Deckenlampe führte, die nachts aus dem Schlaf gerissen wurde, weil die Mutter aus Angst vor angreifenden Wölfen beschloss, besser im Flur zu schlafen, auf einem Matratzenlager? Die sie immerfort vor Vergewaltigungen warnte und sie gleichzeitig bis spät in die Nacht Krimis im Fernsehen schauen ließ? Was fragt man die junge Frau, die jetzt vor einem sitzt, offen und freundlich, im Bremer Café Ambiente direkt an der Weser? Die mit neun Jahren in ein Heim gekommen war, und die jetzt, mit nur 23, ein Buch über ihre Kindheit und Jugend unter schier unglaublichen Bedingungen geschrieben hat?
Was sie erlebt hat in all den Jahren, hat Nilüfer Türkmen in ihrem Buch beschrieben. Als Leser schwankt man zwischen Entsetzen, Traurigkeit, auch Lachen – und Respekt. Respekt vor der Resilienz, die diese abgeklärte junge Frau in sich tragen muss, um solch eine Kindheit zu überstehen und dann den Mut zu finden, darüber ein Buch zu schreiben. Dass es wirklich erschienen ist, in einem großen Verlag, macht Nilüfer Türkmen stolz. „Die Einleitung ist genau so geblieben, wie ich sie mit 19 geschrieben habe“, erzählt sie. „Nicht ein Wort wurde verändert.“ Einer Lehrerin und schließlich einer Dozentin an der Uni ist es zu verdanken, dass Türkmen bestärkt wurde in ihrem Weg: ein Buch zu schreiben über das Erlebte.
Im Heim erlebte sie Dinge, die für zwei Leben reichen würden
Wenn man sie also fragt, was das Schwierigste war am Schreiben, an welchen Stellen es ihr besonders schwerfiel, weil plötzlich alles wieder hochkam, dann kommt eine überraschende Antwort. „Die Zeit mit dem Heimleiter“, sagt Türkmen. Als sie mit neun Jahren ins Heim kam, hatte sie Dinge erlebt, die für zwei Leben reichen würden. Ihre Familie hat türkische Wurzeln. Als Nilüfer Türkmen klein war, siedelte sie mit ihren Eltern von Bremen in die Türkei um. Ihr Vater erkrankte schwer und starb schließlich, und so begann für sie und ihre Mutter eine kleine Odyssee: Die zweite Frau des Vaters und deren Kinder duldeten sie nicht weiter in ihrem Haus, es folgten Wochen der Obdachlosigkeit und des Umherirrens, bis die Verwandtschaft mütterlicherseits Geld für Flugtickets bereitstellte und Türkmen und ihre Mutter zurück nach Deutschland schickten. Bereit, sich um die sichtlich erkrankte Mutter und ihre kleine Tochter zu kümmern, war die Familie nicht. Der Kontakt ist bis heute schwierig bis gar nicht vorhanden. Türkmen sagt heute: „Ich glaube, ich bin allein besser dran als mit ihnen.“
In Bremen-Blockland, wo sie fortan mit ihrer Mutter lebte, fiel die Familie offensichtlich ebenfalls durch jedes Raster. Zwar holte ihre Mutter sich alle paar Wochen eine Haldol-Depotspritze im nahegelegenen Krankenhaus ab – ansonsten aber lebte sie mit ihrer Tochter alleine in der Wohnung. Oft schaffte sie es kaum, ihrem Kind ein vernünftiges Mittagessen zu kochen, Nilüfer lebte das Leben ihrer Mutter in deren Parallelwelt mit. Das änderte sich erst, als sie im Kindergarten und später in der Schule merkte: Die Realität der Mutter zu Hause deckt sich nicht mit der Realität draußen.
Als sie mit neun Jahren endlich in ein Heim kam, bedeutete das zunächst Erleichterung: „Ich war nicht mehr ständig in Erklärungsnot. Wir waren das erste Mal alle auf Augenhöhe.“ Sie hatte, das weiß sie heute, in einer symbiotischen Beziehung mit ihrer Mutter gelebt – ein Begriff, der zuletzt durch den Skandal um den Kinderpsychiater Michael Winterhoff zwar etwas in Verruf gekommen ist, der hier aber wohl zutrifft. „Ich habe mich benommen wie die Mutter meiner Mutter“, sagt Türkmen.
Inzwischen hält sie auch Vorträge zum Krankheitsbild Schizophrenie
Die Zeit im Heim bedeutete für sie allerdings nicht nur Erleichterung: Wie Türkmen erst viel später erfuhr, war der Heimleiter Alkoholiker. Während sie sich sein oftmals aufbrausendes Verhalten, die Schreierei damit erklärte, er möge sie einfach nicht und darunter litt, merkten andere Kinder im Heim schneller, was mit ihm los war – sie hatten familiäre Erfahrungen damit. Türkmen jedoch fühlte sich ohnmächtig, unzulänglich – alles andere als gut aufgehoben. Und dennoch machte sie ihren Weg: Sie bestand ihr Abitur, studiert jetzt Politikwissenschaft, schrieb nebenbei ihr Buch und hält weiterhin Kontakt zu ihrer Mutter, die in einer betreuten Wohngemeinschaft lebt. „Ich liebe meine Mutter. Inzwischen habe ich aber gelernt, mich auch abzugrenzen“, sagt sie. So macht sie nun nachts oft das Handy aus, wenn ihre Mutter ihr eine WhatsApp nach der anderen schickt. Ein oftmals wilder Mix aus guten Wünschen, schrägen Tipps, schrillen Warnungen vor Gefahren, die nicht da sind.
Die 23-Jährige hält inzwischen auch Vorträge zum Krankheitsbild Schizophrenie. Ihr Anliegen: über die Krankheit aufzuklären, denn da sieht sie klare Defizite. „Es gibt so viele Vorurteile. Über die Krankheit wird immer nur dann gesprochen, wenn es zu einer Gewalttat kommt. Auch in Filmen wird die Krankheit immer nur extrem dargestellt.“ Dieses Bild wolle sie entschärfen, sagt sie. Und hat ein wichtiges Anliegen: „Wenn sich Personen in der Öffentlichkeit, in Bahnen und Bussen, komisch verhalten – haltet nicht Eure Handykameras drauf.“
Ihre Kindheit mit der Krankheit ihrer Mutter hat sie in Therapien aufgearbeitet, sagt sie – die Erfahrungen im Heim jedoch noch nicht. Ihr nächstes Buchprojekt hat Türkmen deshalb schon in Planung: Es wird um Heimkinder gehen.
(Originalveröffentlichung im EPPENDORFER 5/21)
Nilüfer Türkmen: „Als Mama mit der Lampe sprach. Meine Kindheit mit einer schizophrenen Mutter“, Bastei-Lübbe, 11 Euro, s.a. https://www.niluefertuerkmen.de
Zu hören ist Nilüfer Türkmen noch bis 23. Juni in einem WDR-Beitrag: In der „Redezeit” spricht sie mit Ralph Erdenberger über ihre Kindheit und Jugend.
Öffentliche Lesungen
31.05. von 18:30 – 20:30 in Schwarzenbek (Die Brücke, Grabauer Str. 27 a)
01.06. von 18:30 – 20:30 in Heide
(Die Brücke, Süderstr. 10)
02.06. von 18:30 – 20:30 in Kiel
(Restaurant des Sports, Winterbeker Weg 49)
Der Eintritt ist frei.