„Stress and the city”

Mittlerweile wächst jeder zweite Mensch weltweit in der Stadt auf. Immer mehr Städte wachsen zu Megacitys mit mehr als zehn Millionen Einwohnern heran. Dabei haben Menschen, die in Großstädten leben oder aufgewachsen sind, ein erhöhtes Risiko, an Depressionen, Angst oder Schizophrenie zu erkranken. Macht die Stadt krank? Bedroht das Wachstum der Städte die Gesellschaft? Braucht es vielleicht einfach nur ideale Städte mit schönen Häusern, lebendigen Straßen, gutem ÖPNV, ruhigen, hellen Wohnungen und viel Grün um der Probleme Herr zu werden? Nein, meint der Berliner Psychiater und Stressforscher Mazda Adli, der ein interdisziplinäres Forum „Neurourbanistik“ mit aus der Taufe gehoben hat: Nicht die Stadt an sich mache krank, sondern dort entstehender sozialer Stress bzw. die Interaktion mit anderen Risikofaktoren. All’ dies – und die positiven Wirkungen der Stadt auf Hirn und Psyche, hat der leidenschaftliche Berliner in einem Buch mit dem Titel „Stress and the city“ zusammengetragen, das eigentlich eine Liebeserklärung an die Stadt ist und inzwischen größere Wellen geschlagen hat.

Diese Zukunftsvorstellung kann Angst machen: Im Jahr 2050 sollen nach einer UNO-Studie drei von vier Menschen im städtischen Raum leben. Schon heute besiedeln mehr als 50 Prozent der Weltbevölkerung zwei Prozent der Erdoberfläche in Städten. 1950 waren es erst 30 – und die Städte wachsen und wachsen. Vor allem in Afrika. Lagos in Nigeria – mit 15 Millionen eine der weltgrößten Städte – legt statistisch stündlich um 67 neue Einwohner zu. In China gibt es bereits über einhundert Millionenstädte. Riesige Megacitys mit mehr als zehn Millionen Einwohnern wachsen an den Rändern ungebremst, ohne Plan, ohne Zentrum. Ein Auswuchs, der es auf die Spitze treibt: Mehr als 50.000 Einwohner Hongkongs, die sich die Mieten nicht mehr leisten können, leben in „Cage Homes“: käfigartige, ca. 1,5 Quadratmeter kleine Boxen.

 

 In Mumbai nicht unglücklicher als hier  …

Und doch: Alles ist nicht so einfach schwarz-weiß. In Mumbai würden die Menschen nicht unglücklicher scheinen als hier, so Adli. Chaos und Schmutz zum Trotz. Ausgerechnet manche Favelas – illegale brasilianische Armutsviertel – zeigen für Adli einen Weg: den der Unfertigkeit, die die Bewohner stimuliere und animiere, etwas zu unternehmen, sich die Umgebung anzueignen. Neben von Aggression und höherer Kriminalitätsrate bestimmten Favelas existierten auch solche, wo der soziale Zusammenhalt offenkundig werde und eine freundliche Stimmung herrsche. Und sich die Bewohner längst richtige Häuser gebaut haben.

 

Mehr Überwachung – mehr Verunsicherung

Dem gegenüber steht die Gefahr von Überregulierung und Überwachung in westlichen Städten. Denn: „Je mehr Überwachung im öffentlichen Raum stattfindet, desto geringer ist die Kontrollüberzeugung“, so der Privatdozent. Häufigste Effekte von Kameraüberwachung im öffentlichen Raum seien zunehmende Verunsicherung und Bedrohungsgefühle, da man beim Anblick der Kameras erst Recht das Gefühl von Unsicherheit bekommt. Überhaupt Sicherheit: Gefühlt – medial mitverursacht – steigt die Zahl der Verbrechen, während die tatsächlichen Zahlen an Straftaten zurückgehen. Übermäßige und irrationale Ängste aber bilden auch einen Boden für Rechtspopulismus und Fremdenfeindlichkeit. 

Sozialer Ausschluss als Gesundheitsgefährdung

Wirklich gefährlich und erwiesenermaßen gesundheitsgefährdend ist sozialer Ausschluss. Einer schwedischen Metaanalyse zufolge hatten Migranten der ersten Generation ein um das 2,7-fach erhöhtes Schizophrenierisiko, bei Zuwanderern der zweiten Generation, die sich schon mehr mit gleichaltrigen Einheimischen vergleichen, war das Risiko sogar 4,5-fach erhöht. Das höchste Risiko betraf Menschen mit dunkler Hautfarbe aus ärmeren Ländern. Armut spielt eine weitere Rolle: Ein Team um den Berliner Psychiater Prof. Andreas Heinz verglich türkischstämmige Menschen aus dem Wedding und Moabit mit deutschen Bewohnern mit dem Ergebnis, dass der Migrationshintergrund zu mehr psychischen Belastungen führte, und zwar je geringer das Einkommen, desto mehr. Den deutlichsten Einfluss hatte erstaunlicherweise die Armut der Nachbarschaft. Vermutung: Diese Menschen sind dann anfälliger für Bedrohungsgefühle. 

Weniger weite, offene Plätze, mehr Grün ..

Was sind weitere messbare negative Einflüsse der Stadt? Prof. Andreas Meyer-Lindenberg, Direktor des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim (ZI), hat eine Studie initiiert, im Rahmen derer Probanden mit Smartphones durch die Stadt geschickt wurden. Mehrmals täglich mussten sie den Wissenschaftlern ihren Standort und ihr momentanes Befinden durchgeben. Das wurde dann mit Karten abgeglichen, auf denen bestimmte städtische Kennzeichen eingetragen waren. Schlecht weg kamen z.B. weite, offene Plätze und interaktionsfreie Flächen, wie Meyer-Lindenberg bei einem Forum der „Zeit“ zur psychischen Gesundheit in der Stadt in Berlin berichtete. Andererseits war der starke positive Effekt selbst kleiner Grünflächen so überzeugend, dass Meyer-Lindenberg flugs auch sein eigenes Büro begrünte.  

Toxische Kombi aus Isolation und Überdichte

Was ist mit Dichte, Enge, Platzmangel? Toxisch sei die Gleichzeitigkeit von Isolation und sozialer Überdichte in Kombination mit Unkontrollierbarkeit, so Mazda Adli auf dem Forum: „Wenn ich zum Beispiel im Hochhaus wohne und laute Nachbarn habe, die ich nicht kenne.“ Die Architektursoziologin Prof. Martina Löw warb bei der gleichen Veranstaltung dafür, nicht alle Städte über einen Kamm zu scheren. Diese hätten jeweils eine Eigenlogik, würden „verschieden ticken“. Es gehe auch um die Frage, welche Stadt passt zu welchen Leuten? 

Zu Mazda Adli passt offenbar Berlin. Er schwärmt von den breiten Bürgersteigen und den Brachflächen der Hauptstadt mit viel Platz zum Leben und Beleben und Interagieren. Schließlich stellt sich auch die Frage der Persönlichkeitsstruktur: So ziehe es Extrovertierte eher ins Zentrum, gewissenhafte Menschen seien eher am Stadtrand zu finden, so Adli.

Positiv: „Vielfalt als Ressource”

Und was sagt Adli zu Einsamkeit und Anonymität der Großstadt? Die Stadt mache nicht per se einsam, meint der Psychiater, gefährlich sei eben der soziale Ausschluss, das Empfinden einer Differenz im Vergleich zur Umgebung. Ansonsten bricht er eine große Lanze für die Stadt: Sie helfe, Unvollkommenheit zu leben, erhöhe die Sozialkompetenz, trage zur Weiterentwicklung bei. „Vielfalt als Ressource“, so seine Zauberformel. Das Unvollständige und Ungewöhnliche stimuliere. So wirkt es sich offenbar positiv aus, wenn die Straßenlaternen ungewöhnlich angeordnet sind, wird die Neugier geweckt und die Phantasie angeregt, wenn Häuser viele Türen haben. Der ideale Ort sei momentabhängig und begegne einem zufällig – wofür man allerdings aufgeschlossen sein muss. Der idealen Stadt hingegen liege die Vorstellung vom idealen Menschen zugrunde. Den es nicht gibt. Daher ist es, so die Quintessenz, offenbar ein bisschen wie in der Politik: Es geht um Verhandeln des Raumes, der für niemanden perfekt ist. Und so empfehle sich eher ein angenehmes Nebeneinander, als ein Miteinander zu erzwingen. Überhaupt: Zwang und Kontrolle machen nicht wirklich glücklich. „Erst in der unkontrollierten Stadt können wir die besonderen Geschichten erleben, die das städtische Leben schreibt, nur dort hält die Stadt ihre Wunder für uns bereit.“ Einen schöneren Aufruf zur Aneignung der eigenen Stadt, ja zur Hingabe an die Großstadt, kann es wohl kaum geben.     Anke Hinrichs

(Originalveröffentlichung: EPPENDORFER 2 / 2018)

Mazda Adli: „Stress and the City: Warum Städte uns krank machen. Und warum sie trotzdem gut für uns sind“, C. Bertelsmann Verlag 2017, 384 Seiten, 19,99 Euro, s.a. www.alfred-herrhausen-gesellschaft.de/de/urbanisierung.htm

 

Stadt – Hirn -Psyche

Es fängt schon mit dem Hirnvolumen an: Je größer die Gesellschaft oder das Rudel, desto größer ist bei Primaten das Hirn. Arten, die monogam leben, haben ein größeres Hirnvolumen als Polygame – was mit höheren sozialen Herausforderungen bei der Paarbindung erklärt wird. Schwierig wird es Studien zufolge, wenn man in Gemeinschaft viel Bedrohung und wenig Unterstützung erlebt und sozialer Stress entsteht. Vor allem Diskriminierung bzw. sozialer Ausschluss sind schwierig. Wenn nicht gefährlich: Ausschlusserfahrungen finden sich offenbar in Biographien von islamistischen Terroristen – und auch bei Rechtsextremen.

Prof. Dr. Andreas Meyer-Lindenberg, Direktor des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim (ZI), hat auch Wirkungen des Stadtlebens auf die Struktur des Hirns gefunden. Die Amygdala, wo negative Emotionen und Bedrohung verarbeitet werden, war in einer Studie der Mannheimer umso größer, je größer die Stadt, in der die Person lebte bzw. je länger Probanden in einer Stadt aufgewachsen waren. Es gab keinen Hinweis auf Schädlichkeit, aber darauf, dass Stadtbewohner empfindlicher, vielleicht auch einfach trainierter auf sozialen Stress reagieren als „Landeier“.

Fakt ist aber auch: Wer in der Großstadt geboren wurde und dort blieb, hat gegenüber denjenigen, die schon immer auf dem Land lebten, ein dreifach erhöhtes Schizophrenierisiko. Das Risiko steigt sogar mit der Größe der Stadt. Für Adli ein Hinweis auf sozialen Stress als Verursacher, zumal eine Risikoerhöhung vor allem Angehörige ethnischer Minderheiten betreffe (s. Text). Auch das Risiko für Städter, an Depressionen oder Angst zu erkranken, ist einer niederländischen Metaanalyse zufolge mit 39 Prozent bzw. 21 Prozent deutlich erhöht. (hin)