Zur Sonne

Thomas Melle ist Schriftsteller und Übersetzer. Foto: Regina Schmeken

Vom zähen und wahrhaftigen Ringen um Leben und
Tod: Thomas Melles neuer Roman ist eine Wucht
. Er steht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Der Sieger wird am 13. Oktober verkündet.

Sie ist wiedergekommen, die Krankheit, und sie hat ihn noch schwerer gepackt und förmlich restlos zerrüttet. Thomas Melle, der grandiose Darsteller eines Lebens zwischen Manie und Depression, sehr schwer an Bipolar 1 erkrankt, bei dem langanhaltende Manien Leben zerstören, hatte so gehofft, dass der Vorläufer – der 2016 erschienene autobiografische Roman „Die Welt im Rücken“ – seinem Leben eine neue Richtung geben könnte. Doch mit dem nächsten manischen Schub wurde er wieder zum Patienten, dem sein Leben um die Ohren flog. Und doch stand er auf und brachte Neues zu Papier: „Haus zur Sonne“ ist immerhin eine halb fiktionale Bearbeitung seines bisherigen Lebensthemas, das er als Aufgabe angenommen hat. „Ich hätte gern darauf verzichtet“, sagte er 2016 in einem Interview, „andererseits ist es eine Aufgabe, eine existentielle Aufgabe, mich dem zu widmen und das in eine Form zu bringen – eine Aufgabe hat auch nicht jeder“.

Manie und Depression, Scham und Schuld, Sterben oder Leben. Um diese Fragen geht es Melle, wenn er ein eigenes Haus kreiert. Ein Haus für Suizidale, denen hier jeder Wunsch erfüllt wird, zumindest als – technisch nicht näher erklärte – Simulation. Unter einer Bedingung: Sie müssen unterschreiben, dass sie dort nach „Behandlung“ aus dem Leben scheiden. Eine Art Luxus-Euthanasie für unheilbar psychisch Kranke.


Was brutal klingt, bildet den Boden für eine 315-seitige Auseinandersetzung damit, was die Krankheit macht und warum der Tod so verlockend ist und doch keine Perspektive, so lange die Ambivalenz gefangen hält. „Die alte Ambivalenz hatte sich wieder eingeschlichen: Ich wollte nicht leben, aber wollte auch nicht nicht leben. Ich wollte weder leben noch sterben, oder eben beides“, heißt es an einer Stelle.


Über zwei Jahre hat die Manie des Ich-Erzählers dieses Mal gedauert. Ausgelöst durch Stress und trotz Phasenprophylaktika, die nicht immer wirken. „Zwei Jahre, innerhalb der ich meine Freundschaften und mein Geld verlor, meinen Ruf erneut ruinierte, meine Wohnung zerstörte, Straftaten beging. Alles dasselbe wie früher, alles noch ein paar Nummern schlimmer.“ Gefolgt von zwei weiteren Jahren „als depressives Elend, voller Scham und Schande, eigentlich unfähig zu leben: eben doch Bewusstwerdung der Verluste und der unzähligen Scherben, ohne sie aufsammeln zu können …“ Alles zu Ende, wieder alles zu Ende. Er fühlt sich wie tot, hat aber die Phase der Umsetzung verpasst. Denn eigentlich durfte er nicht weg, „denn ich wusste, dass mindestens zwei bestimmte Personen derart stark an mein Leben gebunden waren, dass mein Freitod sie sehr stark beschädigen würde. Ich durfte nicht gehen, und war doch längst nicht mehr da“.

Anders Leben – gar Glück erleben, etwa durch einen Lottogewinn oder als Ruhm kostender Popstar – oder auch den Urknall verstehen darf er jetzt in Simulationen. Diese sind eingebettet in eine Luxus-Unterbringung, einer Mischung aus Wellnessressort und pseudotherapeutischem Sanatorium. In der angegliederten Therme trifft er täglich auf die anderen Todgeweihten.

Am Ende steht nicht das Ende


Irgendwann dämmert ihm, was ihm außerhalb blühen würde: Integration. Die Krankheit nicht „zu isolieren und abzuwehren, und sei es durch ihre Darstellung und Abhandlung in einem Buch, sondern wirklich als Teil meiner Persönlichkeit anzunehmen. … Das ist zwar schmerzhaft und kompliziert, aber dann wären es vielleicht wirklich wieder mein Leben und meine Geschichte und meine Kontinuität“.
Am Ende steht nicht das Ende, soviel sei gesagt. Eher ein kleines bisschen Hoffnung. Langsam wird es heller.


Stimmt das mit dem Zustand des Autors selbst überein? „Ich kämpfe“, sagte er dem stern in einem aktuellen Interview. „Ich bin in einer nicht sehr glücklichen Phase und versuche, etwas zu reparieren, das vielleicht nicht zu reparieren ist.“ Sein Leiden nach Manie und Depression: Anhedonie, er kann sich nicht freuen. Seine Message: „Auch wir, die verdammt und ungerettet sind, haben das Recht, gehört zu werden. Und es gibt viele von uns.“ Und er wird noch bleiben, sagt er in dem Gespräch: „Ich muss noch mehr erzählen, von Tiefpunkten und Fehltritten auf meiner Seite, aber auch von den größeren Zusammenhängen, etwa meiner Kindheit. Diese Aufgabe habe ich noch, merke ich. Und dann seufze ich leise und denke, ja, dann geht es wohl doch noch weiter.“ A. Hinrichs