Wenn Profis selbst erkranken

Martina Zühlke, Jahrgang 1962, ist Erzieherin, Yogalehrerin, Systemische Beraterin und Therapeutin – und Depressionserfahrene Hundeliebhaberin. Foto: privat

Psychische Erschöpfung zeigt sich in allen sozialen Interaktionsberufen eher als in anderen Arbeitsfeldern, wie Studien zeigen. Menschen aus dem Bereich der Sozialarbeit und Sozialpädagogik, der Gesundheits- und Krankenpflege, der Sonderpädagogik und Heilerziehungspflege erkranken häufiger an Burnout und Depressionen. Zu ihnen gehört auch Martina Zühlke. In einem Buch hat sie ihre Erfahrungen verarbeitet und gibt ihren KollegInnen Tipps, wie sie die Krise überwinden können.

Seitdem sie vor über 20 Jahren angefangen habe, im Rahmen der Eingliederungshilfe mit psychisch erkrankten Menschen zu arbeiten, seien ihr auch immer wieder Kolleginnen und Kollegen begegnet, die ebenfalls erkrankt waren, meistens an Depressionen, berichtet Martina Zühlke. „Einige arbeiteten unter Einnahme von Medikamenten weiter. Das soziale Engagement wurde höher bewertet als die eigene Selbstfürsorge. Oft haben sie geschwiegen oder sich nur Einzelnen anvertraut. Es wurde nicht deutlich ausgesprochen, wie es ihnen wirklich ging. Weitermachen war die Devise für diejenigen, denen es noch schlechter ging.“ Als es sie 2020 selber traf, konnte es ihr Umfeld kaum glauben. „Ich auch nicht“, versichert sie. „Im Verlauf meiner Gesundung habe ich beschlossen, das Schweigen zu brechen. Ich wollte zu mir stehen, wollte mich ernst nehmen mit all dem, was mein ,Ich muss mal eben die Welt retten’ in ein ,Ich sitze auf dem Sofa und will hier auch nicht mehr runter’ verwandelte.“ S.O.F.A. – „Sicherer Ort für Ausnahmezustände“ – wurde für sie zu einem festen Begriff.


Die schwere depressive Episode hatte bei Martina Zühlke eine Vorgeschichte. Seit November 2003 arbeitete sie zuerst in einer vollstationären Einrichtung für Menschen mit schweren und schwersten seelischen Behinderungen. „Die Arbeit war interessant, aber auch herausfordernd“, so Zühlke. Nach 6 Jahren gönnte sie sich eine Auszeit und lebte in der Türkei, während dieser Zeit absolvierte sie eine Ausbildung zur Yogalehrerin. „Da ich aber mein soziales Umfeld inklusive meiner Kolleginnen und die Arbeit vermisste, kehrte ich nach 14 Monaten an meinen alten Arbeitsplatz zurück. Parallel dazu begann ich Yoga in verschiedenen Settings zu unterrichten, darunter auch viele Jahre im Bereich Eingliederung/Forensik in Ostholstein.

Als private Belastungen dazu kamen, ging irgendwann gar nichts mehr

2015 wechselte Zühlke in die Ambulante psychosoziale Hilfe, eine aufsuchende Tätigkeit. „Es war mein Wunsch, aus dem Schichtdienst in einen geregelteren Arbeitsalltag zu gelangen.“ Die Eigenverantwortung und Selbstorganisation gefielen ihr gut. „Ich konnte aus meiner fachlichen Sicht und empathischen Haltung in Abstimmung mit den Klienten ihren persönlichen Entwicklungs- und Unterstützungsweg erarbeiten. Mein zu diesem Zeitpunkt bestehender Übereifer und die Neigung, sich zu viel Verantwortung aufzubürden, tat mir aber nicht gut.“ Private Belastungen kamen nun hinzu: „Meine Beziehung scheiterte, meine Mutter wurde krank und benötigte Unterstützung, mein Vater suizidierte sich kurz vor seinem 80. Ge-
burtstag.“ Ihr Körper reagierte nun mit Müdigkeit, Konzentrationsmangel, Schmerzen, Verspannungen, Migräne, die bis zu vier Tagen dauerte. „Ich arbeitete noch mehr Stunden, um mich nicht mit meinem seelischen und körperlichen Schmerz auseinander zu setzen. Bis zu dem Zeitpunkt, als gar nichts mehr ging.“

„Ich hatte teilweise das Vertrauen in meine eigenen Fähigkeiten verloren”


Die schwere depressive Episode traf sie hart: „Ich war fest davon überzeugt, nicht mehr arbeiten gehen zu können. Es kostete mich schon unglaublich viel Kraft, mich vom Sofa in die Küche zu begeben, zu duschen oder die Wohnung zu verlassen. Hinzu kam, dass ich an manchen Tagen auch keine Notwendigkeit in diesen Tätigkeiten erkennen konnte. Ich wollte einfach nur da sitzen bleiben.“
Aber sie war ja Profi, wusste doch wie das geht, wenn man alleine nicht mehr weiter kann: Hilfe bei anderen Profis suchen, ehrlich zu sich selbst sein, die Krise akzeptieren, Unterstützer finden, Struktur in den ausgebremsten, energielosen Alltag bringen, freudvolle Momente installieren, weitermachen, aber anders, langsamer und liebevoller mit sich selbst. „Das liest sich jetzt vielleicht leichter, als es war. Über ein Jahr hat es gedauert, bis ich wieder im Leben beruflich und privat mit ausreichend Energie und psychischer Stabilität unterwegs sein konnte.“


Zuerst war sie noch sehr wackelig dabei. „Ich hatte teilweise das Vertrauen in meine eigenen Fähigkeiten verloren, ich konnte nicht mehr einschätzen, wie belastbar ich wirklich bin. Ich war ungeübt und unsicher darin, meine eigenen Grenzen wahrzunehmen und diese auch zum Ausdruck zu bringen. Darin war ich die totale Anfängerin, hatte ich doch jahrelang meine Grenzen überschritten.“ Wenn man ständig beschäftigt sei und sich eine Aufgabe nach der anderen aufbürde, habe das den wunderbaren Effekt, sich nicht selbst wahrnehmen zu müssen, analysiert sie die damalige Zeit. Die Wahrnehmung sei auf die Menschen fokussiert, die betreut werden müssen oder wollen. „Eine Depression springt einen nicht an wie ein Virus. Sie ist das Ergebnis eines inneren Prozesses, der vielleicht schon in Kindertagen beginnt, sie ist die schmerzliche Erfahrung, die gemacht wurde, sie ist die Stimme, die dir sagen möchte: ,Hey, ich bin auch noch da’, sie ist der Stoffwechsel des Gehirns der aus dem Ruder läuft, der neuronale Ausnahmezustand oder vielleicht alles zusammen und noch mehr. Aber was sie auch immer ist, sie kommt nicht überraschend über Nacht, sie kündigt sich an. Sie klopft an deine Tür und das sind die Momente, die es gilt aufmerksam wahrzunehmen. Sich selbst mit mehr Achtsamkeit zu begegnen.“
Der Termin bei einer ihr bekannten Psychiaterin, die Zühlke eigentlich durch die Begleitung ihrer Klienten vertraut war, brachte die Diagnose schließlich ans Licht. „Das war zuerst ein Schock, aber dann kam die Erleichterung, mein Zustand hatte einen Namen. Es gab einen Grund, warum ich mich so fühlte, wie ich mich fühlte. Dies zu akzeptieren, hat mir geholfen.“ Geholfen haben auch hochdosiertes Johanneskraut, der Kontakt zu Freunden und Familie, regelmäßige Gespräche mit der Psychiaterin, eine empathische Sachbearbeiterin bei der Krankenkasse, die ihr den Druck nahm. Und die Mitgliedschaft beim VdK für die rechtliche Beratung, „falls ich es nicht mehr schaffe gesund zu werden, um arbeiten gehen zu können“.

Auf ihrem Weg zu mehr Selbstfürsorge entstand in ihr der Wunsch, andere an dem teilhaben zu lassen, was ihr selbst geholfen hat. Sie schrieb den Ratgeber „Jump“ mit der von ihr entwickelten „Känguru-Strategie“. Mit leicht umsetzbaren Sprüngen will sie den Leser aus der depressiven Verstimmung herausführen. Sie ist eine Unterstützung auf dem Weg zur Entwicklung von mehr Achtsamkeit, Lebensfreude und Selbstliebe. (rd)
Martina Zühlke: „Jump“, Sunshine Verlag, 160 Seiten, ISBN: 978-3-7584-3568-3.

Krisenerfahrene Profis gründen Regionalgruppe in Hamburg

.Krisenerfahrene Profis, kurz KEP (https://inwuerde.de/ kep/), nennt sich eine bundesweite
Online-Vernetzungsplattform/-gruppe. Daraus ist jetzt das Vorhaben hervorgegangen, eine regionale Präsenzgruppe zu gründen. Im folgenden veröffentlichen wir den Original-Aufruf von fünf InitiatorInnen: „Du arbeitest in Hamburg im psycho-sozialen Bereich, bist gleichzeitig von psychischer Erkrankung betroffen oder hast Krisenerfahrungen und suchst Austausch mit gleichgesinnten Kolleginnen? Über die seit Ende 2022 bestehende bundesweite Online-Vernetzungsplattform/-gruppe KEP haben sich Kolleginnen aus Hamburg zusammengefunden, die eine regionale Präsenzgruppe gründen wollen. Ziele sind: einen Austausch zu ermöglichen (z.B. über eigene Offenlegungserfahrungen im Team), sich gegenseitig zu stärken (z.B. um Stigmatisierungen entgegenzuwirken) sowie fachlich zu diskutieren (z.B. die Frage, wie die eigene Betroffenheit in der Arbeit mit Klientinnen professionell fruchtbar gemacht werden kann). Die Gruppe befindet sich im Aufbau und trifft sich zurzeit jeden letzten Sonntag im Monat von 17 bis 19 Uhr. Wir freuen uns auf interessierte Kolleginnen! Kontakt: kep-hamburg@posteo.de“.
Wer sich zudem für die Zoom-Termine der KEP interessiert, kann sich unter krisenerfahrene profis@gmail. com melden. Nächste Themen sind: „Imposter Syndrom: Darf ich hier überhaupt arbeiten, wenn ich krank bin?“ (26. 9., 18 bis 20 Uhr), „Selbstoffenbarung betroffener Profis – Einblicke in die eigene Forschung & Diskussion“ (28.10., 18 bis 20 Uhr), „Zwang in der Psychiatrie“ (26.11., 18 bis 20 Uhr) sowie „Ex-In“ (18.12., 18 bis 20 Uhr). (rd)