„Weniger Betten – mehr
Zulauf in der Forensik“

Experten für Gewalt und Prävention: Dr. Wilhelm Tophinke vom AMEOS Klinikum für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie Neustadt (li.) und Professor Christian Huchzermeier, Direktor des Instituts für Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie am Zentrum für Integrative Psychiatrie (ZIP) des Kieler Uniklinikums. Foto: Geißlinger

Gewalt und psychische Krankheiten – in der öffentlichen Debatte scheint beides zusammen zu gehören. Aber stimmt das überhaupt, und können potentiell gefährliche Menschen erkannt und behandelt werden, bevor etwas passiert? Braucht es auch Behandlungen gegen den Patientenwillen? Um diese Fragen ging es bei einer Tagung Anfang November in Kiel.

Schleswig-Holsteins Gesundheitsministerin Kerstin von der Decken (CDU) brachte den Zwiespalt auf den Punkt: „Wir dürfen Menschen nicht pauschal als gefährlich brandmarken, aber unbehandelte Krankheiten können ein Risiko bergen.“ Das Land hat im Sommer 2023 mehrere Gewaltpräventionsambulanzen eingerichtet. Die Regierung reagierte damit auf den Messerangriff in einem Regionalzug in Brokstedt im Januar 2023, bei dem ein staatenloser Mann ein junges Paar getötet und mehrere Menschen verletzt hatte. Der inzwischen verurteilte Mann war obdachlos, drogenabhängig und wurde wegen einer psychischen Krankheit behandelt. Viele Faktoren also, die statistisch die Gefahr erhöhen, dass ein Mensch gewalttätig wird, sagte Professor Christian Huchzermeier, Direktor des Instituts für Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie am Zentrum für Integrative Psychiatrie (ZIP) des Kieler Uniklinikums. Besonders bei einigen Diagnosen wie Schizophrenie steige das Risiko, eine Gewalttat zu begehen.


Wobei „viele der Menschen, die bei uns in der Klinik sitzen, keine Schizophrenie gebraucht hätten, um delinquent zu werden“, fügte Dr. Wilhelm Tophinke vom Ameos-Klinikum für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie hinzu. Überhaupt sei die Klinik immer beliebter, scherzte Tophinke: „Wir haben 240 Betten, knacken aber demnächst die 290-Patienten-Grenze.“


Und es werde eher schlimmer, warnten Huchzermeier und Tophinke. Je mehr Betten in den Normalstationen abgebaut würden, desto mehr Menschen würden nach Straftaten in der Forensik „landen”. Die beiden Fachleute kritisierten das heutige System: Die Selbstbestimmung gehe vor, selbst wenn viele Warnzeichen auf Gewalt hindeuten. Wenn dann etwas passiere, verschwinde der Mensch in der forensichen Unterbringung – unbegrenzt. „Wäre es nicht besser, vorher etwas zu tun?“, fragte Huchzermeier. (est)

Die Gewaltpräventionsambulanzen in Schleswig-Holstein zogen bei dem Fachtag insgesamt eine positive Bilanz ihrer Arbeit. 2024 wurden in den Ambulanzen in Flensburg, Lübeck, Kiel, Elmshorn und Schleswig 165 Fälle bearbeitet, für 2025 werden steigende Fallzahlen erwartet, wie das Kieler Justizministerium mitteilte. Die Fälle reichen von Menschen mit einem hohen Risiko für Gewalthandlungen bis hin zu Fällen häuslicher Gewalt, oft verbunden mit psychischen Auffälligkeiten, sprachlichen Barrieren oder Wohnungslosigkeit. (epd)


Mehr zum Fachtag in der nächsten gedruckten Eppendorfer-Ausgabe 1/26, die Anfang Januar erscheint.