Vom Weglaufen und Davonkommen –
ein ergreifender Hinterbliebenen-Roman

Schlicht „Laufen“ heißt das Buch der Übersetzerin und Autorin Isabel Bogdan, in dem es um die Verarbeitung eines Suizids geht. Diese geschieht laufend, fortlaufend, wobei der Rhythmus der Fortbewegung die Sprache und die Entwicklung des Trauerprozesses prägt, womit der Autorin eine großartige, wahrhaftige und der Tragik des Themas angemessene Geschichte gelingt.

Eine Frau, namenlos, kann es nicht fassen, dass sich ihr depressiver Partner das Leben genommen hat. Sie kämpft mit Trauer, Wut und großen Schuldgefühlen. Bevor sie der Welt ganz abhanden kommt, beginnt sie auf Rat ihrer besten Freundin Rieke zu laufen. Und je öfter und länger die Bratschespielerin um die Alster läuft, desto mehr gewinnt sie die Kontrolle über ihr eigenes Leben zurück.

Hilfe von der Freundin – und der Psychotherapeutin “Frau Mohl”

Das ist – neben Freundin Rike – auch „Frau Mohl“ zu verdanken, der Psychotherapeutin, „das Beste, was mir passiert ist seitdem, jetzt Frau Mohl und damals die Frau vom Kriseninterventionsteam, die zusammen mit der Polizei vor der Tür stand, als ich aus der Oper nach Hause kam …“ Vielleicht kann „Frau Mohl“ dafür sorgen, hofft die Ich-Erzählerin, „dass ich wieder wohin laufen will und nicht nur weg“.


Dass die Therapeutin so gut wegkommt in dem Buch hat sicher auch damit zu tun, dass die Autorin mit einer Psychotherapeutin befreundet ist, wie sie spiegel-online verriet. Zu dem Stoff gekommen sei sie, als sich ein Bekannter von ihr das Leben genommen habe und sie nicht aufhören konnte darüber nachzudenken, was das mit seiner Frau und seinen Kinder macht.

Wunderschön ihre Beschreibung von Therapie

Wunderschön ihre Beschreibung von Therapie. Wie es helfe zu wissen, nicht die einzige mit solch einem Schmerz zu sein, dass das alles normal ist. Es mache ein klein bisschen Mut, wenn auch den Schmerz nicht leichter. „Man wird ihn ja nicht los, aber vielleicht kann man ihn in ein Regal stellen und da stehen lassen, statt ihn immer mit sich herumzuschleppen.“


Im Verlauf der rund 200 Seiten kommt der Leser nicht nur dem Thema und der Erzählerin, sondern auch dem Toten und der mitverstorbenen Beziehung näher, die immer mehr in einem inneren Monolog aufgeblättert wird. Sie hatten schon einmal eine Depression durchstanden, erfahren die Leser. Aber woher hätte sie es denn wissen sollen, dass die Krankheit zurück war? „Wie soll ich denn wissen, ob es wirklich eine neue Depression war oder einfach deine Entscheidung nicht mehr zu leben“ – so lauten die Gedanken, die sie quälen. Wie soll man auch verstehen, „dass einer nicht mehr leben will, der so vieles schön fand und gern gemacht hat …“ Wo er doch in der Zeit vorher plötzlich ganz entspannt und zufrieden wirkte. Das sei typisch, wenn so ein Entschluss erstmal feststehe, erklärt ihr „Frau Mohl“. Sie gibt Antworten auf Fragen, die Hinterbliebene so quälen, die immer ein bisschen mitsterben.

Und dann kam die Krankheit und es wurde so anstrengend …

Das alles macht auch wütend. Die Beziehung war schon in die Jahre gekommen, zehn Jahre alt, dann kam die Krankheit und es wurde so anstrengend, dass die Erzählerin mitunter darüber nachdachte, ihn zu verlassen. Neue Schuldgefühle: „Bestimmt hast du das gespürt, bestimmt hast du wirklich geglaubt, ich wäre ohne dich besser dran, aber doch nicht so. Doch nicht so, was für eine verfickte, erbärmliche Scheißidee“. Dann schlägt die Behandlung an, sie denkt sie kriegen die Kurve. Und dann … „Natürlich hätte ich ohne dich glücklich sein können, nach einer Weile, aber jetzt kann ich das nicht mehr, ist es das, was du in Wahrheit wolltest, dass ich ohne dich unglücklich bin …?“ Aber vielleicht hätte er sich auch nicht umgebracht, wenn er sich bei ihr sicherer gefühlt hätte? Ach, die Schuld. „Frau Mohl“ sagt, sie müsse akzeptieren, dass es seine Entscheidung war, nicht mehr zu leben, „deine Entscheidung und nicht meine Schuld.“

„Im Alltag verschwindest du allmählich”

Ganz langsam lichtet sich das Dunkel, verflüchtigen sich die schweren Gefühle. „Im Alltag verschwindest Du allmählich.“ Irgendwann entsteht Raum für Pläne, Veränderung. Und irgendwann wird klar: „Er wollte nichts taugen und nichts können und nichts wert sein und ich habe nicht kapiert, was für eine beschissene Dreckskrankheit das ist.“
Sie schafft den Weg zurück in ihr Leben. Doch ein Loch wird immer bleiben. „Vielleicht kann ich ihm verzeihen. Mir selbst – weiß ich nicht …“
Unverzeihlich jedenfalls, dieses großartige Buch nicht zu lesen.
Anke Hinrichs (Originalveröffentlichung 2019)
Isabel Bogdan: „Laufen“, Kiepenheuer & Witsch, Köln: 2019, 20 Euro.