Vom Segen von etwas beseelt zu sein

  • – Drei Fragen und drei (schriftliche) Antworten von Joachim Meyerhoff –

EPPENDORFER: War das Aufschnüren der „Erinnerungspäckchen“, wie sie es in “Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war?” beschreiben, für Sie, der Sie sich in Ihrem Buch ja auch selbst mit Auffälligkeiten beschreiben, auch eine Form von Therapie? Hat das Schreiben Sie selbst verändert?

JOACHIM MEYERHOFF: Es ist ja schon erstaunlich für mich, überhaupt die Konzentration aufzubringen Romane zu schreiben. Für jemanden, der mit Mitte vierzig immer noch arge Schwierigkeiten hat, sich längere Zeit sitzend an ein und demselben Ort aufzuhalten, ist das schon eine gewisse Leistung, Stunde um Stunde über einem Text zu brüten. Immer wieder muss ich aufspringen und durchs Zimmer rennen. Aber ich habe einfach gelernt, meine Unruhe als Geschenk zu begreifen, als einen Heißhunger auf Eindrücke jeglicher Art – und Schreiben ist ja letztlich auch nichts anderes als sich mit Eindrücken zu fluten. Klar wird mir das oft auch zu viel – andauernd muss ich in der Nacht aufstehen und etwas notieren, da ich Panik habe, es am nächsten Morgen nicht mehr zu wissen. Ob das gesund ist, ist mir vollkommen egal – ich empfinde es als Segen, von etwas beseelt zu sein: der Sehnsucht zu schreiben. Wir wollen immer beseelt sein und gleichzeitig ausgeglichen und entspannt – für mich völlig unmöglich. Ich schreibe aber nicht, um mich zu therapieren, sondern aus Lust und Interesse. In Erinnerungen einzutauchen wird oft viel zu schnell gleich gesetzt mit schmerzlicher Arbeit, wenn es um schmerzliche Erinnerungen geht. Überhaupt irritiert mich der Begriff der Arbeit in Bezug auf Erinnerungen –Erinnerungsarbeit – aufarbeiten – selbst da scheint es um Leistungen zu gehen. Ich bin eher von einer Erinnerungslust getrieben – und natürlich vom Faszinosum dessen, was überhaupt Erinnerungen sind –Erzähltes –Erinnertes –Fiktion – Erträumtes – Erwünschtes – Vergessenes –Verdrängtes (Obwohl ich da auch skeptisch bin: dieser Vorratsraum des Bösen ist mir suspekt – diese Grabkammer, die es zu öffnen gilt). Ich suche nach einer befreienden Erinnerungsfreude, die auch die Fiktion nicht Selbstbetrug nennt, sondern ein legitimes Mittel der Ich-Erweiterung ist.

EPPENDORFER: Wie funktioniert das mit dem Erinnern: Wie viel mussten Sie erfinden, um so viel zu erinnern? Wie authentisch ist die Darstellung der verschiedenen einzelnen Patienten, die Sie so plastisch und poetisch vor Augen führen?

JOACHIM MEYERHOFF: Viele der Patienten waren genau so. Und das Besondere an ihnen war ja oft ihre unglaubliche Deutlichkeit –was für beeindruckende Menschen das waren. Für ein Kind natürlich auch hin und wieder erschreckend, aber doch immer deutlich. Warum ist das nur so, dass ein großer Preis der angeblichen Normalität auch die Einordnung voraussetzt, das Undeutlich werden. Ich will das ja gar nicht romantisieren – gesund zu sein ist ein großes Geschenk – aber an viele Lehrer und andere Menschen kann ich mich viel undeutlicher erinnern als an viele der Patienten. Und natürlich entzündet sich auch an diesen sehr speziellen Charakteren die Fantasie – das spricht doch für sie. Immer wieder habe ich durch Fiktion Begebenheiten, die ich vergessen hatte, wiedergefunden. Erfinden heißt Erinnern nenne ich das im Roman – so ist es, letztlich ist die Vergangenheit für mich nichts anderes mehr als die Zukunft – eine offene – chaotische.

EPPENDORFER: Bei der Beschreibung des Neubaus auf dem Hesterberg ist schon früh von Rostflecken die Rede, am Ende haben die Rostflecken die gesamte Fassade verunstaltet – ist das eine rein optische Beschreibung, steht das für eine persönliche Wandlung – oder ist das auch als Sinnbild für die Psychiatrie- Entwicklung insgesamt zu sehen bzw. inwieweit haben sie sich im Zusammenhang mit dem Schreiben des Buches überhaupt auch mit der tatsächlichen Entwicklung der Psychiatrie auseinander gesetzt?

JOACHIM MEYERHOFF: Also auf jeden Fall war dieser von meinem Vater so herbeigesehnte Neubau, der den großen Wechsel von den über hundert Jahre alten Gebäuden zu einem modernen Krankenhaus vollziehen sollte, eine totale Scheußlichkeit. Damals fand ich das allerdings einen tollen Bau. Die Rostflecken habe ich eher deshalb erwähnt, da ich es so tragisch fand, dass mein Vater Jahre der Arbeit in die Verwirklichung dieses Klinikums gesteckt hat und dann dauert es drei Monate und das ganze Ding sieht verrostet und verwahrlost aus – das ist doch typisch für solche Projekte. Ich habe mich mit dem Zustand der Psychiatrie insofern beschäftigt, dass ich den Hesterberg in Schleswig mehrmals besucht habe. Da komme ich in einen echten Zwiespalt – einerseits wird dort mit sehr viel weniger Patienten sicher sehr sinnvoll gearbeitet. Aber für mich – also ganz egoistisch – ist der Kindheitsort,dieser überbordende, von über tausend Patienten belebte Ort verschwunden. Ich hab tatsächlich Sehnsucht nach dieser sicher auch grauenhaften Verwahranstalt, die der Hesterberg in den siebziger und achtziger Jahren noch war. Was bleibt ist aber, glaube ich, schon eine Gefahr der Vereinsamung psychisch Kranker in allen Bereichen – egal wie modern die Einrichtungen werden. Das ist nun wirklich keine Neuigkeit – Zuwendung – Hinwendung. Vielleicht ist das eine total dilettantische Einschätzung – aber jede Diagnose ist auch eine Einengung der Freiheit – eine Kategorisierung, durch welche für den Patienten bestimmte Regeln entstehen. (Fragen: A. Hinrichs) Originalveröffentlichung im EPPENDORFER 4/2013