Vom Glück der späten Jahre

Hölderlin auf einem Bild von 1792. (Franz Karl Hiemer (1768-1822) (http://www.zeno.org/Literatur/I/holdepor) [Public domain], via Wikimedia Commons)

Wie Psychiater auf Hölderlins Spätwerk blicken

Er gilt als Symbolgestalt für das Verhältnis von Genie undWahnsinn: Johann Christian Friedrich Hölderlin, 1770 in Lauffen am Neckar geboren, 1843 in Tübingen gestorben. Für die Konzeptbildung der Psychiatrie spielte der Lyriker eine große Rolle, an ihm kommen weder Germanisten noch Psychiater vorbei, und die Rezeption seines Werks, dessen Gesamtausgabe 20 Bücher umfasst, spricht Bände. Früheren Interpretationen Hölderlins als eines Dichters, der nach den Sternen griff und in der Finsternis geistiger Umnachtung versank, setzt  der Sammelband „Friedrich Hölderlin und die Psychiatrie” einen anderen, sozialpsychiatrischen Blickwinkel entgegen. Demnach kämpfte der Dichter zwar in seinen letzten 36 Jahren, die er entmündigt und von einer Familie gepflegt in seinem Tübinger Turmzimmer verbrachte, mit Symptomen einer schizoaffektiven Erkrankung. Doch gab es auch in dieser Zeit lichte und glückliche Phasen. Der Dichter habe zu einer Art Selbstsorge gefunden, wozu auch seine Turmgedichte von ganz eigenemWert und Klang zählten, die aber als solche und krankheitsunabhängig zu bewerten seien.

 

Uwe Gonther war 15 als er erstmals auf Hölderlin stieß, der ihn nicht wieder loslassen sollte. In der Sprache des Lyrikers fand er sein Lebensgefühl wieder, die Gedichte lösen bei ihm bis heute ein „Wiedererkennen von etwas“ aus, „das ich meine in der Welt zu spüren“. Vor allem die Melodie zog ihn in den Bann. „Der Hölderlin-Ton ist einmalig“, sagt der ehemalige Chefarzt der Allgemeinpsychiatrie am Klinikum Bremerhaven und heute Ärztliche Direktor am AMEOS Klinikum Dr. Heines Bremen. Während seiner Ausbildung zum Psychiater begann Gonther, sich auch in die psychiatrischen Aspekte des Werks  des Mannes zu vertiefen, der als einer der größten deutschen Lyriker gilt. In dem gemeinsam mit Jann E. Schlimme, Privatdozent für Psychiatrie und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Hannover, herausgegebenen und im Psychiatrie-Verlag erschienenen Sammelband „Hölderlin und die Psychiatrie“ wird  dem Bild eines letztlich geistig völlig umnachteten und nicht mehr wirklich literarisch produzierenden Künstlers ein anderes entgegengesetzt: „Es ist der Versuch, den Wahnsinn in seine Biographie zu integrieren, ihn weder zu leugnen noch überzustrapazieren und das Werk damit zu belasten“, so Gonther.

Fachdebatte: Für die einen Revolutionär, für die anderen schizophren 

Das Buch versammelt 15 Beiträge von Hölderlinexperten aus verschiedenen Fachrichtungen. Grundlage ist ein Symposium, das vor zwei Jahren auf dem Bad Homburger Schloss stattfand. Ser Band enthält wenig Biographisches, wohl aber eine Darstellung von Hölderlins siebenmonatiger Krankenhaus-„Behandlung“ und v.a. viel Einordnung der enormen Fachliteratur-und diskussion der letzten hundert Jahre, nicht zuletzt auch in aktuelle sozialpsychiatrische Konzepte. Aufgearbeitet wird insbesondere auch die Debatte rund um Deutungen des Germanisten Pierre Bertaux aus den 60er Jahren auf der einen Seite – Bertaux zeichnete Hölderlin als Revolutionär, der die Psychose gespielt habe, um der politischen Verfolgung zu entgehen – und Uwe Henrik Peters auf der anderen Seite, der von „Schizophasie“ sprach und sämtliche überlieferten Äußerungen aus der Turmzeit vermittels der Diagnose Schizophrenie erklären wollte.

 

„Schizoaffektive Störung mit posttraumatischer Komponente”? 

Was in der Fachwelt wiederum auf scharfe Kritik stieß. Und auch Uwe Gonther verlangt, das Spätwerk unabhängig vom psychischen Zustand zu betrachten. Hölderlin nachträglich mit einer heutigen Diagnose zu belegen hält er überdies für eigentlich nicht möglich: „Man kann nicht nachträglich eine Diagnose stellen ohne den Menschen kennenzulernen.“ Gonther und Georg Wolfgang Wallner sprechen dennoch in einem gemeinsamen Beitrag über die Symptomatik des Dichters – der sich selbst im übrigen nicht als krank ansah – von einer schizoaffektiven Störung mit posttraumatischer Komponente als wahrscheinlichste Hypothese. Den Hintergrund bilden überlieferte Darstellungen seiner Sprachstörungen, von phasenhafter Raserei, von zerstörtem Mobiliar und zerrissenerKleidung – „ohne je einen Menschen verletzt zu haben.“ Gonther spricht ferner von einer offensichtlich „unvermesslichen Kluft zwischen ihm und dem Rest der Welt“, einer Verrücktheit eben, und dem völligen Rückzug, der nicht allein mit einem Trauma erklärbar sei.

Drastische  „Therapie” dürfte traumatisch gewirkt haben

Traumatisch dürfte sich die siebenmonatige drastische Behandlung im Tübinger Klinikum unter Leitung des Arztes Johann Heinrich Ferdinand Autenrieth ausgewirkt haben. Dorthin war der studierte Theologe und zuletzt als Hofbibliothekar tätige Dichter 1805 mit Gewalt verbracht worden, nachdem er bereits 1802 durch einen verwirrten, verwahrlosten Zustand aufgefallen war. In Tübingen wurde er – mitten zwischen internistisch erkrankten Patienten – in einem von drei für Tobsüchtige reservierten Zimmer untergebracht. Der damalige Behandlungsansatz war rein naturwissenschaftlich. Autenrieth verstand Hölderlins Wahnsinn bzw. Manie als „Nachkrankheit der Krätze“. Die Therapie bestand zunächst darin, den vermeintlichen krankhaften Stoff ausleiten zu wollen. Dafür wurden Durchfälle, aber auch hämorrhoidale Blutungen provoziert, wofür Quecksilber und Klystiere, Naphtendämpfe und Salmiakgeist eingesetzt wurden. Auch Belladonna-Tollkirsche und Opium wurden als Narkotikum eingesetzt. Die zweite Behandlungsphase bestand in Sicherung des Wahnsinnigen und in dessen „Zähmung“ und dem „Brechen desWillens“. So durch Isolation bzw. Einschließen – ohne Möglichkeit poetischer Arbeit – sowie durch Fesseln mit Garnen, Hungernlassen und bei Bedarf durch Anlegen einer Gesichtsmaske bei Schreienden. Immerhin: Zur Ermunterung wurden später Spaziergänge, Kaffee und Wein gewährt …

Die psychoanalytische Kurzversion in Stichworten 

Zugute gehalten wird Autenrieth, dass er Hölderlin nach Feststellung von Unheilbarkeit nicht in eine Sonderinstitution zur Dauerunterbringung verwies, sondern in die Pflege einer Tischlerfamilie vermittelte, die des Dichters Werk verehrte und ihn offenbar respektvoll behandelte. Biographische Hintergründe nahmen bei der Behandlung in einer Zeit, als das Wort Psychiatrie noch nicht einmal existierte, keinerlei Raum ein. Psychodynamische Hintergründe spielen auch in dem nicht leicht verdaulichen Fachband kaum eine Rolle, da dieser eben nicht mit dem Anspruch antritt, die Biographie abzubilden, was bereits Inhalt unzähliger anderer Publikationen ist. Die psychoanalytische Kurzversion in Stichworten von Uwe Gonther: Ein fehlender Vater (der leibliche starb als Hölderlin zwei, der Stiefvater als er zwölf war), „eine lebenstüchtige evt. übermächtige Mutter“, von der er sich nicht habe lösen können, Hinweise auf verdrängte homoerotische Impulse und schließlich die unglückliche Beziehung zu seiner großen Liebe Susette, einer verheirateten Frau, die 1802 verstarb. Eine Diagnose helfe nicht, so die Message des Bands, um Hölderlin oder seine Dichtung zu verstehen.

„Weil er seine Psychose ausgelebt hat, musste er sich nicht umbringen.“

Wohl aber könne das Verständnis von Psychosen als besonderem Lebensweg über die Hölderlinforschung vertieft werden. Warum etwa, könnte man sich fragen, wurde Hölderlin mit seinem Wahnsinn so vergleichsweise alt – während sich Zeitgenosse Heinrich von Kleist 34-jährig das Leben nahm? Was hielt Hölderlin im Leben? Eine Rolle habe wohl die Demut des Theologen gegenüber der Natur und auch der Religion gespielt, vermutet Gonther, der ansonsten glaubt: „Weil er seine Psychose ausgelebt hat, musste er sich nicht umbringen.“ Der Psychiater verweist in diesem Zusammenhang auf die heutige Psychiatrie und eine statistisch erhöhte Suizidgefahr direkt nach Klinikentlassung. Besonders gefährdet seien Patienten, denen man neben dermedikamentösen Therapie nicht auch eine gute Rehabilitation und Therapie biete. „Mitunter ist es schwerer ohne Psychose zu leben als mit ihr.“

Häufig sang er laut, gern trank er viel Kaffee und Wein …

Zwar sei Hölderlin schwer seelisch krank gewesen, doch gebe es auch Hinweise auf durchaus glückliche Phasen des Dichters, dessen Handschrift auch in den letzten Jahren schön, ausgeglichen und schwungvoll wirke. Täglich spielte er im Turm Klavier, häufig sang er laut, gern trank er viel Kaffee und Wein. Eine Zeit lang erhielt er auch häufiger Besuch, da er alsTouristen- und Studentenattraktion galt. Und er schrieb, wenn auch nicht annähernd soviel wie früher, und so sind doch ca. 52 Turmgedichte überliefert, die von einem besonderen Wert seien, wie Gonther hervorhebt. Er schätze an ihnen den Mix aus einer „Auseinandersetzung mit der Kälte des Seins und der Schwierigkeit zu leben mit Trost“. Auch wenn Hölderlins Lyrik kein Beispiel für eine typisch schizophrene Dichtung sei – „fraglich, ob es die überhaupt gibt“ – so spreche aus ihr doch das, was psychotisch Erkrankten oft in der Poesie Halt gebe: keine Verbiegeration (ein häufig bei schizophren oder dement Erkrankten vorkommendes Symptom einer Aneinanderreihung sinnloser Silben), keine Wortschöpfungen, sondern eher klare Strukturen und Regeln. Das könne reorganisierend wirken.

 „Sorge um sich“ – Turmgedichte als Therapeutikum 

So wie auch das Vorlesen einfacher Geschichten oder Märchen Menschen helfen könne, die an akuten Psychosen leiden, sich zu stabilisieren. Für Hölderlin wiederum scheint das Schreiben der Turmgedichte Therapeutikum gewesen zu sein. Als „diätisch“ interpretiert sie jedenfalls Wolfgang Emmerich in einem weiteren Beitrag, und zwar im Foucault’schen Sinne einer „Sorge um sich“, zu der Hölderlin in späten Jahren gefunden habe. Zu dieser gehöre nicht nur Ernährung, Bewegung und Ruhe, sondern auch Musik (sein tägliches Klavierspiel) und das Dichten, mit dem dem Lyriker „eine Beruhigung, Herabregelung der gestörten, überschießenden Einbildungskraft“ gelungen sei. Damit habe er an die Stelle seiner „alten großartigen idealischen Subjektivität“ eine andere, „gleichsam schmalere, bescheidenere zurückgezogene Subjektivität“ gesetzt, „der wir in gleicherWeise Respekt schuldig sind“.                             Anke Hinrichs

(Originalveröffentlichung: Eppendorfer 2/2011)

Uwe Gonther, Jann Schlimme (Hrsg.):Friedrich Hölderlin und die Psychiatrie, Edition das Narrenschiff, Psychiatrie-Verlag, Bonn 2010, ISBN 978-3-88414-513-5, 300 S., 29.95 Euro.