Nur wenige Terroristen seien schwer psychisch krank im eigentlichen Sinn. „Terrorismus zu psychiatrisieren heißt zu bagatellisieren“, so DGPPN-Vorstandsmitglied Dr. med. Nahlah Saimeh Anfang Juli bei einem Presseworkshop der DGPPN, über den der EPPENDORFER in seiner Sommerausgabe auf Seite 1 berichtete. Kurz nach Erscheinen kam es zu der Attentatsserie Würzburg, München, Reutlingen und Ansbach, wobei offenbar drei der vier Täter vor den Taten psychisch auffällig, zwei in psychiatrischer Behandlung waren. Hängen Psyche und Terrorismus doch näher zusammen? Der EPPENDORFER hakte bei der Ärztlichen Direktorin am LWL-Zentrum für Forensische Psychiatrie Lippstadt nach.
EPPENDORFER: Würden Sie Ihre Ausführungen von Anfang Juli vor dem Hintergrund der Anschlagsserie in Bayern modifizieren oder ergänzen?
DR. NAHLAH SAIMEH: Modifizieren nein. Es gibt drei Gruppen: Menschen mit einer psychischen Erkrankung, bei denen Radikalisierung Bestandteil und Symptom einer schweren psychischen Störung ist, völlig Gesunde in biographischen Umbruchsituationen, etwa in der Adoleszenz, und ohnehin dissoziale gewaltaffine Menschen, die im Terrorismus die passende Ideologie finden, um ihrer Wut, ihrem Frust, ihrer Gewaltbereitschaft Rechtfertigung zu verleihen. Abgesehen davon ist das Spektrum psychischer Erkrankungen so breit – ist Radikalisierung etwa bei Zwangs-, Ess- oder Angststörungen überhaupt kein Thema. Es gibt Strukturen und Bedürfnisse, die für Radikalisierung anfällig machen, vor allem, wenn Phasen der Umorientierung oder Unsicherheit Sorgen bereiten. Radikale Ideen versprechen eine einfache Welt, ohne Gegensätze, ohne Widersprüche, alle Probleme werden gelöst. Und Schuld sind immer die Anderen. Das ist verlockend, hat aber nichts mit psychischer Krankheit zu tun. Wir kennen das ja auch aus der Deutschen Geschichte.
Was zuzunehmen scheint ist, dass terroristische Organisationen zunehmend versuchen, leicht beeinflussbare psychisch kranke Menschen durch Ideologie einzufangen.
EPPENDORFER: Gibt es konkrete Beispiele?
DR. SAIMEH: Es soll solche Kontaktanbahnungen im Umfeld von Psychiatrien bereits geben. Das ist ja nicht ungeschickt. Menschen, die leiden, suchen Hilfe und Erlösung von ihrem Leid. Das kann man ausnutzen.
EPPENDORFER: Stichwort Berichterstattung. Sollten sich Medien einen Kodex verordnen – vergleichbar mit den Regeln zur – verhaltenen – Berichterstattung über Suizide?
DR. SAIMEH: Ja, unbedingt! Auch bei Attentaten gibt es Nachahmer, denen die mediale Aufmerksamkeit letzte Bestätigung ist, es jetzt auch zu tun. Außerdem steigt doch die Verunsicherung aller, je mehr Attentate es in kurzer Zeit gibt. Wenn ich mich jetzt als Täter einreihe, bin ich also durchaus noch wirksamer, weil ich zur allgemein gesteigerten Angst noch effektiver beitragen kann. Attentäter und Amokläufer dürfen nicht diese mediale Aufmerksamkeit bekommen, die ja einer narzisstischen Gratifikation entspricht. Auch die Beschreibung der Methode sollte weitgehend unterbleiben. Eine Machete oder eine Axt kann sich doch nun jeder leicht besorgen. Die Opfer müssen im Mittelpunkt stehen.
EPPENDORFER: Ergeben sich aus den jüngsten Gewalttaten neue Handlungsbedarfe für die Psychiatrie?
DR. SAIMEH: Ja insofern, als dass bei bestimmten Störungen die psychiatrische Exploration thematisch erweitert werden sollte. Bei Psychosen ist ohnehin damit zu rechnen, dass Themen wie „IS“ auch in wahnhafte Denkinhalte eingebaut werden. Vor allem aber bei der Abklärung von Suizidalität kann es sinnvoll sein, gezielt nach Homizid-Suizid zu fragen, also nach Selbsttötung durch die Kopplung an Tötungen. Das gilt sicher auch in der Jugendpsychiatrie. Sehr junge Menschen in lebensbiographischen Umbruchsituationen wie der Pubertät sind besonders leicht zu manipulieren. Radikalisierung ermöglicht eine maximale Abgrenzung von den Eltern. Es gibt in diesem Zusammenhang viele psychologische Motive ohne psychiatrische Hintergründe.
EPPENDORFER: Unter „ICD-10 F 24“ ist die „Induzierte wahnhafte Störung“ aufgeführt. Darunter wird ein Wahn verstanden, der von zwei (oder mehr) Personen mit einer engen emotionalen Bindung geteilt wird, auch wenn nur einer real krankhaft gestört ist. Könnte bei islamistischen Attentaten auch eine Art „induzierter religiöser Wahn“ im Spiel sein?
DR. SAIMEH: Im Einzelfall wäre das möglich.
EPPENDORFER: Amoktaten und Terrorismus scheinen sich vom Prinzip her anzunähern. Sehen Sie hier Grenzen verschwinden?
DR. SAIMEH: Motiv und ideologische Bindung sind unterschiedlich. Im Gegensatz zum Terroristen kreist der Amokläufer um sich selbst. Er hat ein persönliches Kränkungs-Thema, selbst wenn er sich auf den letzten Metern vielleicht noch ein ideologisches Gewand überstreift. Amoktaten sind aber sehr selten, auf 3,5 bis 6 Millionen Männer kommt eine Amoktat. Die weit größere Gefahr geht vom internationalen Terrorismus aus.
Aber die Wahl der Methode gleicht sich heute an. Wenn heute einer mit einer Waffe in die Menge schießt, weiß man erst mal von außen betrachtet nicht, ob es ein Terroranschlag sein soll oder ein persönlicher Rachefeldzug aus Kränkung. Und während der Terrorismus der 70er Jahre auf einem auf bestimmte gesellschaftliche Gruppen bezogenen Feindbild basierte, ist jetzt jeder Objekt des Feindbildes. Vor allem alle Menschen, die irgendwie das Leben zu genießen scheinen. Offenbar unabhängig vom Glauben, denn es sterben ja auch viele Muslime.
Anke Hinrichs