Der Teufelskreis der Stigmatisierung

BERLIN (hin). Einige psychische Störungen können unter bestimmten Konstellationen mit erhöhter Gewaltbereitschaft einhergehen. Insgesamt hätten aber nur circa zehn Prozent der Tötungsdelikte mit psychischen Krankheiten zu tun, umrissen die Referenten eines DGPPN-Presse-Workshops zum Thema „Gewalt und Terrorismus: das Unbegreifliche begreifen“ das Ausmaß. Ziel der Veranstaltung war, dem „Teufelskreis der Stigmatisierung“ entgegenzuwirken: Diese kann daran hindern, Hilfe in Anspruch zu nehmen, während gerade unzureichende Behandlung die Gefahr erhöht, dass es bei Stress zu Gewalttätigkeiten kommen kann.

Die DGPPN sei sehr in Sorge über manche Berichterstattung, so die Präsidentin der Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde, Dr. Iris Hauth. Sie brachte den Pressekodex in Erinnerung. Dort heißt es unter Ziffer 12: „Niemand darf wegen seines Geschlechts, einer Behinderung oder seiner Zugehörigkeit zu einer rassischen, ethnischen, religiösen, sozialen oder nationalen Gruppe diskriminiert werden.“ Eine Auswertung von Artikeln über den Germanwings-Absturz habe aber in 32 Prozent „explizite Stigmatisierung“ festgestellt, 64 Prozent der Beiträge wurden als „riskante Berichterstattung“ eingestuft. Damals wie auch nach der Attentatsserie in Bayern (die nach dem Workshop stattfand, s.a. S. 6) wurden Forderungen laut, die Schweigepflicht aufzuweichen oder abzuschaffen, was aktuell – nach Protesten aus der Ärzteschaft – wieder vom Tisch scheint.

Dreh- und Angelpunkt der rechtlichen Beurteilung von Gewalt nach Paragraph 20 und 21 StGB ist die Frage, ob eine Krankheit vorhanden ist und wenn ja, ob diese die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit einschränkt. Prof. Henning Saß aus Aachen unterschied drei forensische Zuordnungsgruppen potentiell gewaltauslösender Zustände: akute krankhafte seelische Störung, erhöhtes Aggressionspotential im Zuge einer Persönlichkeitsstörung („schwere andere seelische Abartigkeit“) und die „tiefgreifende Bewusstseinsstörung“ einer eigentlich gesunden Person, die unter hoher Erregung, etwa Eifersucht, eine „abnorme seelische Reaktion“ zeige. Als körperlich begründbare psychische Störung, die mit erhöhter Aggressivität einhergehen könne, nannte er u.a. Epilepsie, „posttraumatische Wesensänderung“ und Intoxikationen. Unter den Psychosen: Schizophrene Störungen („wahnbildend, kataton-erregt“), Manie („gereizt-expansive Form“) und Melancholie („Suizid und erweiterter Suizid“). Schließlich nannte er noch „Variationen seelischen Daseins“, wie z.B. bestimmte Persönlichkeitsstörungen, Pyromanie, sexuelle Perversionen. Eine Diagnose bedeutet aber nicht automatisch Schuldunfähigkeit, was Saß am Beispiel des voll schuldfähig gesprochenen Attentäters der Kölner Bürgermeisterin (paranoide und narzisstische Persönlichkeitsstörung) sowie an Anders Breivik deutlich machte. Ferner nannte er das Beispiel eines schizophren erkrankten Mannes, der im Wahn eine Bohrmaschine klaut und dafür voll verantwortlich ist, da das Delikt nichts mit der Krankheit zu tun habe.

Zu der viel diskutierten und umstrittenen Frage, inwieweit psychische Erkrankungen das Gewaltrisiko erhöhen, liegen inzwischen aussagekräftige landesweite Fallregisterstudien aus Skandinavien vor. Diese zeigten eine „gewisse Risikosteigerung für alle Diagnosen“, so Saß. Die stärkste Erhöhung gab es bei organisch begründeten psychischen Störungen und solchen aus dem Schizophrenie-Spektrum (laut Saß um Faktor 3, ca. dreimal höher im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung), „insbesondere bei komorbiden substanzgebundenen Störungen.“ Am wenigsten Erhöhung fand sich bei affektiven Krankheiten.

Einer ausführlichen Studienübersicht (s. Der Nervenarzt 1/2016, S. 53-68) zufolge scheinen insbesondere hirnorganisch begründete Störungen ein „deutlich erhöhtes Risiko“ zu tragen. Schizophrenien und Manien beinhalteten vor allem zu Krankheitsbeginn das höchste Risiko, dem aber auch therapeutisch wirksam begegnet werden könne, ebenso Nichtbehandlung – auch dies, wie das gesamte Thema eine Aufforderung, die Versorgung barrierefreier zu gestalten, die Behandlungskontinuität zu verbessern, aber auch weiter zur Entstigmatisierung beizutragen. Als stärkste Risikofaktoren werden v.a. frühere Gewalt, Missbrauch von Alkohol und Drogen, männliches Geschlecht und jugendliches Alter aufgeführt. Der Vergiftungswahn könne eine besondere Gefahr für Familienangehörige darstellen, ebenso Eifersuchtswahn und kalte Wut, so Saß. Andere Störungen indes wie Angst- und Zwangssymptomatik und überwiegend auch Depressivität wirkten laut Übersicht auch gewaltvorbeugend. Und 95 Prozent der Behandelten, die aus der Forensik entlassen wurden, würden nicht mehr wegen Gewalttätigkeit auffallen, machte Dr. Nahlah Saimeh deutlich. Insgesamt variieren die Gewaltrisiken im Länder- u. Studienvergleich erheblich – was auf kulturelle Einflüsse hinweist.