Sektenkinder
im Abseits

Sektenkindern wird oft Angst vor dem Weltuntergang in die Wiege gelegt ... Symbolfoto: pixabay

Sie haben keine Chance, dem Grauen zu entkommen: Kinder, die in eine Sekte hineingeboren wurden. Der körperliche und seelische Missbrauch hat für sie furchtbare Folgen, ein Ausstieg aus der fanatischen Glaubensgemeinschaft ist schwer. Ein Buch klärt auf. 

Spielzeug, Spaß, Süßigkeiten, Fernsehen, Rock- und Popmusik, Romane, Fußball und andere Spiele – für die Kinder in der fundamentalistischen Christensekte der Zwölf Stämme ist alles verboten. Besitzen dürfen sie nichts, selbst Albernheiten sind nicht erlaubt. Brutal wird ihnen jede Eigenständigkeit, selbstständiges Denken und Kreativität ausgetrieben. Erziehungsziel ist die vollständige Unterwerfung der Kinder unter den Willen der Eltern, zu den Erziehungsmethoden gehört die regelmäßige Züchtigung. Zu unterwerfen hat sich dort auch die Frau dem Manne. All dies schilderte Robert Pleyer in seinem Buch „Der Satan schläft nie“: 20 Jahre verbrachte er in der totalitären und rassistischen Gemeinschaft, zeugte dort mit seiner Frau vier Kinder und stieg in der Sektenhierarchie zum Lehrer auf. Nach 21 Jahren verließ er die Zwölf Stämme und nahm seine Kinder mit – seine Frau blieb. 

Pleyers erschreckender Bericht aus dem Innenleben der Zwölf Stämme zeigt, wie besonders die Kinder leiden, die in eine Sekte hineingeboren werden. Pleyer schloss sich mit 20 Jahren freiwillig der Gemeinschaft an, hatte also ein Leben vor der Sekte und kannte die Welt draußen. Aber schon für ihn war der Ausstieg schwer. Für Sektenkinder hingegen ist der Abschied ein Sprung ins Ungewisse. Das im Psychiatrie Verlag (Imprint BALANCE buch + medien verlag) erschienene Buch „Sektenkinder. Über das Aufwachsen in neureligiösen Gruppierungen und das Leben nach dem Ausstieg“ rückt diese Gruppe in den Fokus.

Ein Ausstieg reißt ihnen den Boden unter den Füßen weg

Es ist das Ergebnis einer Studie, für die 19 Sektenkinder nach dem Ausstieg befragt wurden – sie kommen mit ihren Erfahrungen ausführlich zu Wort. „Sektenkinder“ fordert in Fachbeiträgen Hilfe für diese Gruppe ein, denn ein Ausstieg oder unfreiwilliger Ausschluss aus der Gruppe reißt ihnen den Boden unter den Füßen weg. Sie verlieren nicht nur ihr Glaubensfundament, sondern oftmals auch alle sozialen Kontakte, auch die in der Sekte verbliebene Familie wendet sich ab. Das Nichtwissen über die Welt da draußen nach einem Leben in Isolation macht einen Neuanfang zudem unglaublich schwer. Hinzu kommt das Misstrauen: In der Sekte wird jegliches Urvertrauen systematisch ausgetrieben, die Gemeinschaft beansprucht die Kinder für sich, und die Eltern stellen die Gruppe und den Glauben über das Wohl der Kinder. Das systematische Auseinanderreißen der Familie, das Verschicken der Kinder, ist oft ein Instrument der Kontrolle der Führer.

„Jeder, der in einer Sekte aufwächst, hat kein Ich”

Erschütternd sind die Schilderungen aus dem Inneren der Gemeinschaften: Körperliche und sexuelle Misshandlungen, permanente Abwertung bei maximaler Ausbeutung der Arbeitskraft, Überwachung und Ängste (vor der Strafe Gottes oder dem Weltuntergang) sind Alltag. Ein eigener Wille und eine eigene Meinung werden als schädlich angesehen und unterdrückt, ebenso wie die Sexualität. Die 37-jährige Aussteigerin Miriam: „Jeder, der in einer Sekte aufwächst, hat kein Ich. Der kann gar kein Ich entwickeln, weil es gar nicht gefördert wird.“ Die Kinder lernen, die eigenen Gefühle zu unterdrücken, um nicht anzuecken, ein Selbstwertgefühl existiert nicht.

Bei dieser Vorgeschichte ist ein Sektenausstieg, der mit großen Ängsten und Unsicherheiten verbunden ist, alles andere als ein Selbstgänger. Er muss auch psychotherapeutisch begleitet werden. Dieter Rohmann, Diplompsychologe und Ausstiegsberater, hat in 35 Jahren psychotherapeutische Methoden entwickelt, die speziell auf die Sektenkinder abgestimmt sind. Im Buch stellt er sie vor: Die Sektenkinder müssten, so Rohmann, ihre eigene Kulterfahrung erst benennen, verstehen und verarbeiten lernen, bevor sie ressourcenorientiert Zukunftsweisendes erarbeiten. Wenn sie begriffen haben, was mit ihnen in ihrer Kindheit passiert ist, kann ein Leben – und das zeigen die Erfahrungsberichte – nach dem Sektenausstieg gelingen. Michael Freitag (Originalveröffentlichung im EPPENDORFER 2/21)

Kathrin Kaufmann, Laura Illig, Johannes Jungbauer: „Sektenkinder. Über das Aufwachsen in neureligiösen Gruppierungen und das Leben nach dem Ausstieg“, BALANCE buch + medien verlag, Köln 2021, 174 S., 15 Euro.