Himmel, was für ein Titel! Seelenzauber! Und was für ein Untertitel: „Aus Wien in die Welt – Das Jahrhundert der Psychologie“. Da ist ja alles drin. Es geht um „Zauber“, also um Geheimnisvolles, es geht um den Kosmos – irgendetwas beginnt in Wien und greift in die Welt, und es geht um ein ganzes Jahrhundert, das Jahrhundert der Psychologie, also der Seelenkunde. Steve Ayan, Psychologe und Wissenschaftsjournalist, hat sich dieses großen Themas angenommen, der Entwicklung der Psychotherapie von ihren Anfängen am Ende des 19. Jahrhunderts bis heute.
Man kann dieses Buch als vieles bezeichnen: eine Abhandlung, eine Erzählung, eine Analyse, vielleicht sogar als ein Märchen. Denn woher will er – der Autor – wissen, dass im Herbst 1902 Alfred Adler mit „trippelnden Schritten“ und „tief ins Gesicht gezogenem Hut“ um eine Ecke biegt, um noch gerade pünktlich (denn Freud mochte keine Zuspätkommer) um 20.30 Uhr bei der Mittwochsgesellschaft in der Wiener Berggasse 19 einzutreffen? In diesem wöchentlich stattfindenden Diskussionskreis, der schon bald so anwächst, dass man den Ort in ein Caféhaus verlegen muss, entwickeln und entfalten sich die Anfänge der Psychoanalyse.
„Archäologe, der in die Grabkammern der Seele hinabsteigt”
Diese wird, so Ayan, „das Selbstverständnis der Menschen erschüttern und ihren Umgang mit sich selbst und miteinander grundlegend verändern“. Der Kerngedanke der Psychoanalyse gründet in der Annahme des Unbewussten, das Freud zwar nicht entdeckte, welches er jedoch in ein therapeutisches Konzept und in eine Behandlungstechnik einband, die bis heute Bedeutung und Gültigkeit besitzt. Einzig dem Unbewussten und den in ihm verborgenen Ängsten, Bedürfnissen und (sexuellen) Trieben galt Freuds Interesse, weil in ihnen die Ursache allen seelischen Leidens zu finden sei. Ayan bezeichnet Freud zu Recht als „Archäologen, der in die Grabkammern der Seele hinabsteigt“.
Wir sind eben nicht, wie bis dato angenommen, Herr im eigenen Haus. Und vielleicht gründet hierin der irritierende Buchtitel „Seelenzauber“. Die Seele ist ein Geheimnis und Freud bzw. die Psychoanalyse ist angetreten, dieses Geheimnis zu ergründen. Zudem ist es Freud, der ein schlüssiges Persönlichkeitskonzept entwickelte (das Es, das Ich und das Über-Ich), auf das sich auch heute noch – also mehr als 100 Jahre später – Therapieforscher und -Wissenschaftler beziehen. Insofern mag ihm eine Art „Vormachtstellung“ gebühren, die er auch über lange Jahrzehnte, wie Ayan deutlich darlegt, gegenüber den mit ihm kämpfenden und rivalisierenden Kollegen behauptete.
Aber genug von Freud, denn dieses Buch, das in geradezu betörender Weise geschrieben ist, bietet so unendlich viel mehr. Zum einen werden die in der Folge der Psychoanalyse entwickelten zahlreichen Therapieverfahren und Therapietechniken auf anschauliche und auch für Laien sehr gut verständliche Weise dargestellt (hier kommen vielleicht eher die Profis zu kurz, denen diese Darstellungen etwas zu oberflächlich sein mögen).
Neben den drei großen Richtungen der Psychoanalyse, des Behaviorismus und der humanistischen Psychologie behandelt Ayan auch Randgebiete und Verfahren wie zum Beispiel die anthroposophische Lehre eines Rudolph Steiner oder den Ansatz des SPK (Sozialistisches Patientenkollektiv Heidelberg: „Aus der Krankheit eine Waffe machen!“). Zum anderen findet fast immer eine gesellschaftspolitische Einordnung und Kontextualisierung der unterschiedlichen Methoden und Verfahren statt. (So ist es sicher kein Zufall, dass die Anfänge der Psychoanalyse in das nahende Ende der k.u.k.-Monarchie fallen…)
Warum Freud anfänglich seine Schwestern auf seinen Wartezimmerstühlen platzierte
Schließlich – und das macht das Buch zu einem absoluten „Pageturner“ – werden die Lebensläufe und Charaktere der Gründerfiguren sehr minutiös nachgezeichnet und analysiert. Hier hat man und frau dann auch als Profi sein Vergnügen: Denn die wenigsten unter ihnen werden zum Beispiel wissen, dass Freud – als er seine Praxis gründete – anfänglich seine Schwestern auf den Wartezimmerstühlen platzierte, um vor den wirklichen Patienten den Eindruck eines gut laufenden Betriebes zu erwecken.
Und wer weiß schon, dass Fritz Perls, der Gründer der Gestalttherapie, Freud spöttisch den „Platzanweiser“ nannte, da er jeder geistigen Regung „einen Sitz im großen Theater von Ich, Es und Über-Ich zuordnet“. Und überhaupt: Ayan hat viel und gründlich recherchiert zu den Beziehungen und Rivalitäten, die zwischen den Großen der Therapieschulen bestanden, allen voran natürlich Freud. Dieser verzieh „keine abweichenden Meinungen und duldete nur treu Ergebene um sich. Die Neigung zur Unversöhnlichkeit zieht sich wie ein roter Faden durch sein Leben“. Die meisten Schulengründer bestanden darauf, dass ihr Verfahren das jeweils richtige und evidente sei. Es gab (und gibt!) zwischen den unterschiedlichen therapeutischen Verfahren wenig produktive Kooperation, aber viel Abgrenzung und Rivalität.
Wie angenehm ist es vor diesem Hintergrund, dass Steve Ayan mit guter Distanz und meist sehr wohlwollendem Blick auf die Figuren und Verfahren der Therapieschulen schaut, ohne sich anzumaßen, diese beurteilen und bewerten zu müssen. Neben dem reichhaltigen Input, das der Leser bekommt, macht auch diese Haltung des Autors den „Seelenzauber“ zu einem großen und lehrreichen Lesevergnügen.
Martina de Ridder (Originalveröffentlichung im EPPENDORFER 3/25)
Steve Ayan: „Seelenzauber: Aus Wien in die Welt – Das Jahrhundert der Psychologie“, 1. Auflage 2024, 400 Seiten, 22, 99 Euro.