Psychiatrie
unter Strom

Gerät für Elektrokrampftherapie Thymatron System II, Hersteller Somatics. Foto: Stefan Bellini

Die moderne EKT erlebt seit Jahren eine Renaissance – um ihre Wiedereinführung an der Universitätspsychiatrie Hamburg-Eppendorf (UKE) im Jahr 2016 wurde heftig gerungen.  

Elektroschock, das klingt brachial und war für Patienten in dunklen Zeiten der Psychiatrie eine Tortur und oftmals gegen ihren Willen angewandte Gewalt. Früher, ohne Betäubung und Muskelrelaxans, kam es dabei zu Knochenbrüchen, Herzstillständen und schweren Gedächtnisstörungen. Im kollektiven Gedächtnis fest verankert: Die Elektroschock-Szene in „Einer flog über das Kuckucksnest“. Und so ist das Image der heute Elektrokonvulsionstherapie oder auch Elektrokrampftherapie genannten Methode in Deutschland bis heute bescheiden: EKT zählt zu den umstrittensten Methoden der Psychiatrie. Und erlebt aber doch in seiner modernen Ausformung (Freiwilligkeit, geschultes Personal, standardisierte Behandlung, genaue Indikationsstellung, Kurznarkose, Muskelrelaxans) seit Jahren eine Renaissance und große Akzeptanz in der Fachwelt. Grund ist v.a. die hohe Wirksamkeit in Fällen schwerer Erkrankung, bei denen andere Behandlungsansätze versagt haben. Und das bei vergleichsweise geringen Nebenwirkungen. Von 1985 bis heute wuchs die Anzahl der in Deutschland so behandelten Patienten von ca. 800 auf ca. 3000 an. 2015 war EKT an allen Universitätspsychiatrien wieder eingeführt, außer in Regensburg und am UKE. Dort wurde ab 2015 heftig um eine Einführung von EKT gerungen. Seit 2016 gibt es auch in Eppendorf wieder EKT – allerdings unter strengen Auflagen.

HAMBURG/STADE (hin). Sie sträubte sich lange. „Ich habe so eine Angst vor der Narkose gehabt, die habe ich heute noch“, sagt Frau J.. Aber sie sah, dass es bei anderen half, und nach drei Monaten schwerer Depression, gegen die auch Medikamente nicht halfen, willigte sie ein. „Schön war das nicht“, sagt die 65-Jährige, und in den Aufwachraum mit frisch Operierten um sich herum wollte sie auch nicht wieder, musste sie auch nicht. Nach der siebten EKT-Behandlung wurde es auf einmal besser, sagt sie. Nun strickt sie wieder und will am Wochenende nach Hause. Da wartet nicht nur sehnlichst ihr Mann, sondern auch die Handarbeit und der Garten. Und dann gibt es auch noch acht Enkel. „Bei ihr half keine andere Therapie. Ohne EKT wäre Frau J. wahrscheinlich Monate länger hier geblieben oder vielleicht auch suizidal geworden“, sagt Dr. Martin Huber, Chefarzt in Stade, wo er die EKT einführte.

Bis nach Stade oder auch Wilhelmshaven wurden früher auch UKE-Patienten gebracht, wenn sie EKT bekommen sollten. Es waren seltene Fälle, von einer einstelligen Zahl pro Jahr ist die Rede. Dabei gehörte die Behandlung vor der Entwicklung des ersten Neuroleptikums auch in Eppendorf zum Standard. Dort wurden vermutlich schon 1939 erstmals Elektroschocks durchgeführt, die Methode war 1938 in Italien eingeführt worden. Am UKE machte sich der damalige Lehrstuhlinhaber Prof. Hans Bürger-Prinz für die gefürchteten Schocktherapien (auch Insulin- und Cardiazolschocks) stark.

 

In Skandinavien, Australien und Kanada sehr weit verbreitet

Die moderne EKT ist in skandinavischen Ländern, Australien und Kanada sehr weit verbreitet und werde dort auch schon in frühen Krankheitsphasen eingesetzt, berichtete der Neurologe und Psychiater Dr. Nils Freundlieb im Rahmen eines Workshops bei den jüngsten „Eppendorfer Depressionstagen“. Auch in Deutschland werden immer mehr Patienten mit der EKT behandelt. Laut einer Studie aus dem Jahr 2013 böten die Behandlung 43 Prozent der 432 psychiatrischen Kliniken in Deutschland an, so Freundlieb. Doch bleiben die Anwendungszahlen noch weit hinter denen anderer Länder zurück: Während in den USA 15 EKT auf 10.000 Einwohner kämen – dort würden auch viele Patienten ambulant behandelt – seien es hierzulande statis-tisch gesehen 3,4 Patienten auf 10.000 Einwohner und insgesamt rund 3000 Patienten und 30.000 Behandlungen im Jahr. 80 Prozent betreffen affektive Störungen, 20 Prozent Psychosen. 

Zwischen 1970 und 1995 wurde EKT unter dem Bürger-Prinz-Nachfolger und Sozialpsychiater Jan Gross nur noch vereinzelt angewandt. Unter Prof. Dieter Naber wurden am UKE keine Patienten mit EKT behandelt, seither wurden diese dafür an andere Kliniken überwiesen.  Wissenschaftlich begründet gelte EKT heute für bestimmte Erkrankungen als die bestmögliche Behandlung mit geringem Risiko, so Freundlieb – auch mit Verweis auf ein Statement der Bundesärztekammer von 2003. Die Darstellung der Elektrokrampftherapie als veraltete, überholte oder gar inhumane und grausame Behandlungsmethode sei falsch, heißt es darin. Ein Verzicht auf die EKT wird dagegen als „ethisch nicht vertretbare Einschränkung des Rechtes von häufig suizidal gefährdeten, schwerstkranken Patienten auf bestmögliche Behandlung“ bezeichnet.

30 bis 60 Sekunden dauernder epileptischer Krampfanfall

Und so funktioniert EKT heute: Die Patienten werden für wenige Minuten unter Vollnarkose gesetzt und erhalten währenddessen einen kurzen Stromstoß. Damit wird ein ca. 30 bis 60 Sekunden dauernder epileptischer Krampfanfall ausgelöst, der von außen nicht sichtbar ist, da die Körpermuskulatur durch ein Medikament entspannt bleibt. Rasch danach erwachen die Patienten und können in der Regel nach 30 Minuten wieder zurück auf Station transportiert werden, so Freundlieb. Üblich seien ca. zwölf Behandlungen innerhalb von  vier Wochen.  Mögliche Nebenwirkungen seien Kopfschmerzen und Muskelkater, es können aber auch kurzzeitige kognitive Störungen auftreten. Gegen Zungenbiss und Zahnschäden hilft ein Gebissschutz. Auch Lücken im autobiografischen Gedächtnis könnten „selten Folge sein“, und es bestehe eine „geringgradige Gefahr“ inselförmiger Gedächtnislücken, so Freundlieb, die Datenlage sei diesbezüglich uneindeutig. Für im Vergleich zu früheren Zeiten geringe Gedächtnisstörungen sorgt auch, dass die EKT technisch verbessert wurde und auch die Elektroden anders als früher angesetzt werden. Hier gilt allerdings: „Je mehr man die Nebenwirkungsrate reduziert, desto mehr setzt man auch die Wirkungsrate herunter“, so Freundlieb. Kontraindikation sei zum Beispiel  ein akuter Herzinfarkt. Die Wirkweise ist nicht ganz geklärt. Klar ist, dass es zu verschiedenen neurochemischen Veränderungen kommt. Die Ausschüttung von Neurotransmittern und Neurohormonen wird stimuliert, und es werden neue Synapsen und Nervenzellen gebildet. 

Die Ansprechrate ist laut Studien hoch. Eine schwedische Registerstudie von 2012 untersuchte die Daten von 990 EKT-Patienten, zu 80 Prozent depressiv. Sie ergab laut Freundlieb: Bei über 50-Jährigen lag die Ansprechrate bei 84 Prozent, bei jüngeren bei 74 Prozent – „Je älter und je schwerer die Erkrankung desto wirkungsvoller“ – bei schwer kranken Patienten lag die Rate bei fast 90 Prozent, bei leichter Erkrankten bei 70 Prozent. Bei einer zusätzlich vorliegenden Persönlichkeits- störung sank die Rate auf 60 Prozent. Einer Übersichtsstudie von 2003 zufolge zeigt sich bei 50 Prozent schon nach der dritten Behandlung deutliche Besserung. Therapie erster Wahl ist EKT bei wahnhafter Depression, Starrezustand (Stupor), schizoaffektiver Psychose, Major Depression mit hoher Suizidalität oder Nahrungsverweigerung und lebensbedrohliche Katatonie. Indiziert ist EKT laut Bundesärztekammer, wenn wegen der Krankheitsschwere eine Notwendigkeit für eine schnelle Verbesserung bestehe und der Patient schlecht auf Psychopharmaka anspreche.

Problem der Behandlung ist die hohe Rückfallrate

Problem der Behandlung ist die hohe Rückfallrate – laut einer Metaanalyse von 2013 erkrankten fast 50 Prozent der Patienten innerhalb eines Jahres erneut, wenn keine weitere Therapie an die Behandlung angeschlossen wird. Daher sei eine Rückfallprophylaxe unerlässlich. So könne etwa durch Stimulierung in größeren Abständen („Erhaltungstherapie“) sowie Medikamente die Rückfallrate auf 30 Prozent gesenkt werden. Wichtig sei, für jeden Patienten einen individuellen Therapieplan zu erstellen, so Dr. Nils Freundlieb: „Der kann z.B. eine Erhaltungs-EKT, Psychopharmaka und auch Psychotherapie enthalten“.      Anke Hinrichs

 

Stichwort: EKT im UKE

Hintergrund der Wiedereinführung von EKT am UKE war der Gedanke, Beziehungsabbrüche zu vermeiden, die zwangsläufig erfolgen, wenn gerade schwerkranke Patienten in ein anderes Krankenhaus gebracht werden. Seit Sommer 2015 wurde zweiwöchentlich offen diskutiert. Eine Arbeitsgruppe baute ein Netzwerk auf und holte Informationen ein. Die Vorbehalte waren teils groß – und führten letztlich zu strengen internen Rahmenbedingungen. Dazu zählen nach den Angaben von Dr. Nils Freundlieb: keine Zwangs-EKT, kein EKT-Tourismus, es werden nur im Hause bekannte Patienten behandelt. EKT soll  nur bei schweren Erkrankungen eingesetzt werden. Das Ganze wird ausführlich evaluiert. Die Patienten werden über die Behandlung ausführlich aufgeklärt, vor Beginn werden Zielvereinbarungen abgeschlossen und Abbruchkriterien festgelegt. Das Umfeld – Angehörige und Betreuer – soll „wann immer möglich einbezogen werden“. Für einen korrekten Ablauf wurden Checklisten erstellt: Darin wird u.a. auch abgefragt, ob Peer-Begleiter einbezogen wurden. In der Einführungsphase  bis Oktober 2016 wurden drei Patienten behandelt. Ziel für 2017 war: Ausweitung der Patientenzahlen, Start der Begleitforschung und Behandlung in einer „EKT-Suite“ innerhalb des UKE-Psychiatriegebäudes.    (hin)

 

„Eine Frage der Haltung” – Einwände gegen EKT

„Müssen wir alles wollen, was wir können?“ war eine Stellungnahme von Prof. Thomas Bock, Leiter der Psychosen-Ambulanz im UKE, betitelt, mit der dieser – wie auch andere – im Vorjahr gegen eine unkritische Einführung von EKT in der UKE-Psychiatrie Stellung bezog. In Eppendorf wurde lange kontrovers und letztlich konstruktiv diskutiert, so Bock. Die Ergebnisse dieses Prozesses flossen in strenge Richtlinien für einen rein internen Einsatz von EKT ein, die nun seit diesem Jahr auch in Eppendorf wieder angewandt wird.

Der für die Sozialpsychiatrie stehende Prof. Thomas Bock sperrte sich nicht gegen EKT-Behandlungen in Einzelfällen an sich – nannte aber als Voraussetzung die Existenz einer bestimmten Beziehungskultur und Haltung, mit Aspekten wie Geduld, offene Wahrnehmung, langfristige Begleitung von Patienten, Kontinuität, Dialog, Deeskalation, „weil sich dadurch die Wahrscheinlichkeit von Zwang und invasiven Eingriffen drastisch senken lässt“. Für ihn als unverzichtbar benannte er, „dass EKT (wie bisher) nur in extremen und gut begründeten Einzelfällen eingesetzt wird und die Grenzen nicht immer durchlässiger werden, dass das Prinzip der Freiwilligkeit überzeugend klar gehandhabt wird und durch eine gute Kooperationskultur (u.a. Behandlungsvereinbarung) geschützt wird“.

Knackpunkte, die er benannte: EKT bediene durch die „offensichtliche einseitige Verteilung von Macht und Ohnmacht ein falsches Beziehungsmuster“.  Patienten müssten über eine strenge Indikation und den Behandlungskontext  vor Missbrauch geschützt werden – gerade vor dem Hintergrund der Schocktherapie-Geschichte der UKE-Klinik. Bock verwies zudem auf die Dynamik von schweren Depressionen: „Patienten richten Aggressionen ausschließlich nach innen. Verzweiflung und Destruktivität können eine gefährliche Mischung eingehen. Wissen wir, was in einem Patienten vorgeht, der auf diesem Hintergrund der EKT-Behandlung zustimmt? Sind uns die Mechanismen von Übertragung und Gegenübertragung ausreichend klar?“

Ferner stellte er in Frage, ob es wirklich nur um seltene Ausnahmefälle gehen werde: „Was passiert, wenn das Gerät da ist, wenn es sich finanziell  lohnt, wenn Studien aufgelegt werden?“ Bock forderte denn auch, EKT erst nach Ausschöpfung von allen psychiatrischen und psychotherapeutischen Mitteln (was bedeute, dass letztere auch vorgehalten werden müssen) sowie in der Regel nur bei schweren Depressionen und insgesamt nicht umfangreicher als bisher anzuwenden.

Der Professor für Psychologie wirbt für eine Kultur, „die den ganzen Menschen wahrnimmt, die Leiden ernst nimmt, begleitet, nicht nur wegmacht, Ohnmacht aushält und Hoffnung vermittelt, um Beziehung ringt, Augenhöhe wahrt, Zwang meidet, Zeit gibt, Kontinuität garantiert und bei allen unseren Ressourcen die Bedürfnisse der Schwerstkranken im Vordergrund sieht. Wenn uns das gelingt, verkraften wir auch einzelne EKTs. Und vielleicht gelingt uns sogar nachzuweisen, dass auch EKT ohne diese Kultur verantwortungslos ist.”

(Originalveröffentlichung: EPPENDORFER 12/2016 & 1/2017)

Einen weiteren Bericht über die Diskussion der Frage, ob EKT auch ohne Einwilligung und unter  Zwang durchgeführt werden sollte, lesen Sie hier: http://eppendorfer.de/zwangsweise-ekt/