Pflege: Situation spitzt sich weiter zu

Die Situation in der Pflege wird immer dramatischer: In Niedersachsen werden bestehende Versorgungsverträge gekündigt, weil es an Personal fehlt. Foto: Pixabay

Immer mehr Menschen sind auf Pflege angewiesen – doch immer öfter ist niemand da, der sich um sie kümmern kann. Pflegediensten fehlen aktuell so viele Fachkräfte, dass sie nicht mehr alle Aufträge annehmen können und sogar Verträge kündigen müssen.

Die Pflegedienste der Wohlfahrtsverbände in Niedersachsen schlagen angesichts eines gravierenden Personalmangels Alarm. In den zurückliegenden Monaten hätten die ambulanten Pflegedienste ihren Dachverbänden vermehrt zurückgemeldet, dass sie pflegebedürftige oder kranke Menschen nicht mehr hinreichend versorgen könnten, sagte der Vorsitzende der die Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (LAG), Ralf Selbach in Hannover. Zuerst hatte der NDRüber den Personalmangel berichtet. Auch Diakonie-Leiter Hans-Joachim Lenke sprach von gravierenden Problemen.

Nach einer Umfrage der LAG unter ihren 400 ambulanten Diensten seien von Februar bis April rund 1.700 Anfragen von Pflegebedürftigen abgelehnt worden, sagte Selbach. In 63 Fällen hätten sogar bestehende Pflegeverträge gekündigt werden müssen. “Das Ergebnis war erschütternd und macht deutlich, welch gravierende Versorgungsprobleme wir in der niedersächsischen ambulanten Pflege haben.”

Nicht nur für die Pflegebedürftigen, sondern auch für die pflegenden Angehörigen und die Mitarbeitenden in den Pflegediensten sei die Situation extrem belastend, betonte der LAG-Vorsitzende. “Dass jetzt Pflegeanfragen abgesagt und vereinzelt sogar Pflegeverträge gekündigt werden müssen, führt vielfach zu Überforderungen.” Der Trend müsse gestoppt und umgekehrt werden, forderte Selbach auch mit Blick auf die Politik. Nötig seien eine konzertierte Aktion und ein konkreter Handlungsplan: “Am besten in Koordination mit dem Sozialministerium.”

Der Vorstandssprecher der Diakonie in Niedersachsen, Hans-Joachim Lenke, kritisierte: „Die derzeitige Situation ist leider ein Problem mit Ansage.” Für die pflegebedürftigen Menschen gleiche es einer Katastrophe, wenn sie in ihrer Region keine Pflege mehr fänden, sagte Lenke dem Evangelischen Pressedienst (epd). „Das darf nicht sein. Gleichzeitig kann man nicht erwarten, dass man den Pflegemitarbeitenden immer noch mehr Patienten, noch größere Touren und damit längere Arbeitszeiten zumutet.”

Auch in der Diakonie hätten einzelne Einrichtungen Absagen erteilen müssen oder Verträge gekündigt, räumte Lenke ein. Er forderte ein „Aktionsbündnis Pflege”, in dem Politik, Kostenträger und Leistungserbringer zusammenarbeiteten. Gemeinsam sollten sie klären, welche kurz- und mittelfristigen Steuerungselemente nötig seien, um dem Pflegenotstand zu begegnen. Für die Diakone gehöre dazu unter anderem eine Kampagne zur gesellschaftlichen Aufwertung der Pflegeberufe und ein allgemeinverbindlicher Tarifvertrag.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hatte zuvor am vergangenen Mittwoch in Berlin die Eckpunkte des Sofortprogramms der Koalition für mehr Pflegekräfte vorgestellt. Es soll 2019 in Kraft treten. Die wichtigsten Vorhaben:

-13.000 zusätzliche Fachkraftstellen für die stationäre Altenpflege. Je nach Größe kann jede Einrichtung eine halbe, eine, anderthalb oder zwei neue Stellen einrichten. Das Programm wird von den Krankenkassen finanziert.

– Mit bis zu 12.000 Euro werden ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen bezuschusst, die in die Digitalisierung ihrer Dokumentation und Verwaltung investieren, um Pflegekräfte zu entlasten.

– In den Krankenhäusern wird von 2019 an jede zusätzliche Stelle in der Pflege von den Kostenträgern vollständig refinanziert. Bisher zahlen die Kliniken zehn Prozent der Lohnkosten selbst.

– Tarifsteigerungen werden rückwirkend von Januar 2018 finanziert. Bisher tragen die Kliniken die Hälfte der steigenden Personalkosten. – Für Altenheime, Pflegedienste und Krankenhäuser wird es finanziell günstiger, Nachwuchs auszubilden.

– Statt für Koch- und Yogakurse zahlen die Krankenkassen künftig 70 Millionen Euro mehr pro Jahr zur betrieblichen Gesundheitsförderung im Gesundheitswesen selbst, damit Pflegekräfte länger im Beruf bleiben können.

Die Kritik an dem Regierungsprogramm ließ nicht lange auf sich warten. „Dieser Aktionsplan ist leider ein Witz”, sagte der Präsident des evangelischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Lilie, den Zeitungen der Funke Mediengruppe. „Mit diesen 13.000 Symbolstellen gewinnen wir nichts in diesem Land.” Die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele, erklärte, nötig seien 60.000 neue Stellen. Bentele sprach sich zudem dafür aus, neben Versicherungsbeiträgen auch Steuerzahlungen zur Finanzierung der Pflege zu verwenden.

Auch die pflegepolitische Sprecherin der FDP-Fraktion, Nicole Westig, kritisierte, das Sofortprogramm sei eine Nebelkerze. „Bereits jetzt können offene Stellen nicht besetzt werden, der Markt ist leergefegt”, sagte Westig den Zeitungen. In Deutschland sind laut Bundesregierung mehr als 35.000 Pflegestellen derzeit nicht besetzt.