Sammelleidenschaft ist eigentlich normal – solange eine gewisse Ordnung dahintersteckt. Anders sieht es bei Menschen mit Messie-Syndrom aus: Sie sammeln ohne sichtbare Ordnung Dinge, und zwar in so großen Mengen, dass z.T. ihre Wohnungen unbewohnbar werden. Was für den neutralen Beobachter Müll ist, hat für Messies eine ganz eigene Wertigkeit. Hinter Dingen stecken Pläne oder gar große Projekte. Bei einer Fachtagung in Hamburg* wurde ein Ausflug in medizinische und psychologische Erklärungsmodelle gewagt.
Der Münchner Verein „H-Team“ betreibt nach eigenen Angaben das bundesweit einzige „Messie-Telefon“. Hier können sich Betroffene Hilfe holen, wenn etwa aufgrund der zwanghaften Sammelleidenschaft der Verlust der Wohnung droht. Ziel des „H-Teams“ ist es denn auch, den Erhalt der eigenen Wohnung zu sichern und für eine Stärkung der Mietfähigkeit zu sorgen, wie dessen Geschäftsführer Wedigo von Wedel zu Beginn seines Referates betonte. Man versuche durch minimale Interventionen zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens zwischen Mieter und Vermieter beizutragen. Dabei gelte für seine Mitarbeiter vor allem eine Regel: Geduld, Geduld, Geduld.
„Messies sammeln eigentlich keine Dinge sondern Pläne“
Wer den Messies helfen möchte, muss sich vor allem in deren Gedankenwelt hineinversetzen. „Messies sammeln eigentlich keine Dinge, sondern Pläne. Und zu diesen Projekten gehören Dinge. Oder sie sammeln Erinnerungen, die sie an Dingen festmachen“, erläuterte von Wedel. „Sie sind auf sich bezogene Planungsweltmeister und dabei handlungsblockiert, laufen ständig vor sich selbst davon und begegnen sich zwangsläufig in der Privatsphäre Wohnung. Sie können funktionieren, aber nicht sein.“ Das Haben ersetze das Sein. Dinge dienten als Partnerersatz. „Sie haben zwar ein soziales Umfeld, aber selten primäre Bindungsbeziehungen.“ Von Wedel nannte hier das Beispiel einer Frau, die Stofftiere sammelte. Jedes hatte einen Namen.
Jede Wohnung sei ein Spiegel der inneren Befindlichkeit seiner Bewohner, so von Wedel. Chaos innen und außen. Messies überfrachteten ihre Wohnung mit Gegenständen, bis deren funktionale Aufteilung verloren gehe oder sie sogar unbewohnbar werde – und fühlten sich dabei überfordert. „Der Boden unter den Füßen geht ihnen verloren.“ Außerhalb der Wohnung könnten sie aber durchaus den Schein wahren, besonders adrett und sehr ordentlich auftreten.
Selbstbewusstsein, aber kein Selbstwertgefühl
Was sind nun die wahrnehmbaren Eigenschaften von Messies? „Sie haben einen Hang zu Perfektionismus in Bezug auf Sauberkeit und Ordnung, Werten, Moral, Ethik“, so von Wedel. Sie kompensieren also die Unordentlichkeit durch besonders perfektionistisches Verhalten. Sie hätten auch hohe Intelligenz und Kreativität. Im Beruf seien sie durchaus leistungsfähig, auch engagiert im Ehrenamt und spontan hilfsbereit. „Aber sie sind leistungsunfähig im Handeln für sich selbst, dafür ist fast null Bereitschaft und Energie vorhanden.“ Hinzu kämen der Hang zum Aufschieben, Entscheidungsschwäche und Ängste sowie die scheinbare Gleichgültigkeit in Bezug auf die eigene Situation. Und die „Muss-ich-allein-machen-Haltung“. Zeitchaos sei zudem bei ihnen programmiert, sie seien oft notorisch unpünktlich. Nicht unerheblich auch: Oft treffen bei Messies in sich widersprüchliche Anteile einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung mit unterschiedlichen Krankheitsbildern wie Paniken, Depressionen, Zwängen, Essstörungen, Kaufsucht und Suchtmittelabhängigkeit zusammen.
„Messies haben Selbstbewusstsein, aber kein Selbstwertgefühl“, beschrieb von Wedel seine Erfahrungen. Es fehle ihnen das Urvertrauen in Mitmenschen und sie fühlten sich als Objekte des Geschehens. „Sie nehmen sich nicht als Subjekte des Handelns oder Unterlassens wahr und fühlen sich deshalb auch nicht verantwortlich“. Ein möglicher Grund etwa der Gelassenheit bei drohender Einschaltung des Gerichtsvollziehers. Zudem zeigten sie selbstquälerische Verhaltensweisen.
Zwang und Gewalt in der Kindheit als ein Hintergrund
Worin liegen nun die Ursachen des Messie-Syndroms? Für den Facharzt und Psychoanalytiker Rainer Rehberger liegen sie in einer übermäßigen erzieherischen Strenge mit Zwang und Gewalt in der frühen Kindheit: „Erleiden Menschen in ihrer frühen Entwicklung während des ersten Lebensjahres übermäßige erzieherische Strenge, Zwang und Gewalt, bilden sie eine Neigung zuwiderzuhandeln und zu widersprechen aus, der Kern der Desorganisation bei Messies. Zugleich verschließen sie sich im unsicher-vermeidenden Bindungsverhalten“, so Rehberger. Messies seien zwanghafte Persönlichkeiten und handelten zwanghaft zuwider. Sie hielten Ordnung oft nicht ein, weil sie sie unbewusst als aufgezwungen erlebten. Die mangelnde Zuwendung in der Kindheit habe die Folge, dass sich Messies gegen die bedrohlichen und überwältigenden Gefühle von Verlassenheit und Leere selbst therapierten, etwa mit dem Sammeln. Sie geben sich selbst Zuwendung.
Es habe schon Suizide bei Räumungen gegeben
Janice Pinnow vom Landesverband der Messies im norddeutschen Raum ist eine „wissend Betroffene“ und weiß, dass der Hilfeprozess mühsam ist. „Messies brauchen über viele Jahre viel Hilfe“, bekräftigte sie in ihrem Vortrag, wobei mit Druck gar nichts gehe. Denn dann würden sie sich „tot stellen“, sich verweigern. Man könne nicht einfach bei den Klienten aufräumen, denn die würden stark emotional an den Gegenständen hängen und könnten bei Verlust auch in eine schwere psychische Krise geraten. „Messies fühlen sich mit den Dingen verbunden, die Sachen sind wie Freunde, wie Lebensgefährten. Wenn man sie ihnen wegnehmen würde, würde eine Grundlage für sie wegbrechen.“ Deshalb gelte auch: Vorsicht bei Zielformulierungen. Es habe schon Suizide bei Räumungen gegeben, diese könnten Retraumatisierungen und Handlungsblockaden auslösen.
Das Chaos drücke Nestwärme, eine Form von Schutz, aber auch Autonomie aus – denn man wolle ja nicht, dass jemand anderes in die Wohnung kommt. Diese sei ein unbewusster Ausdruck des Inneren. Pinnow gab Betroffenen den Rat, in Selbsthilfegruppen zu gehen. Ergo- und Traumatherapie, aber auch körperorientierte Psychotherapie könnten helfen, auf keinen Fall eine Verhaltenstherapie. Der erste wichtige Schritt sei, sich selbst zu lieben, die Selbstannahme und gesunde Beziehungen seien wichtig. Pinnow: „Gefordert werden muss, dass der Messie eine eigene Persönlichkeit bilden darf. Die Betroffenen sollten Gutes für sich tun. Und ihre Ressourcen und ihr Selbstwertgefühl müssten gestärkt werden.“
Maike Kleber, Sucht- und Sozialtherapeutin und Systemische Supervisorin, Organisations- und Fallberaterin, gab einen Einblick in ihre Arbeit mit Messies. Auch sie stellte klar: „Eine Veränderung kann nur Schritt für Schritt gelingen, der Klient muss selber damit anfangen.“ Messies kämen zu ihr aus Eigen- oder Fremdmotivation, oft gebe es bereits einen langen Leidensweg, einen Leidensdruck, der ernst genommen werden müsse. Es gelte für sie, den Kontakt zur Stabilisierung zu halten, Ruhe zu bewahren, Verständnis zu zeigen, zu unterstützen bei der Suche nach Hilfe. Auf keinen Fall dürfe man in Abwesenheit des Betroffenen „Klar Schiff“ machen.
Dem Gegenüber immer Zeit lassen und sein Tempo akzeptieren
Die Veränderungswünsche der Messies seien unterschiedlich: Manche wollten mal wieder etwas finden oder im eigenen Bett schlafen können, andere wollten auch mal wieder andere in die Wohnung einladen können oder mehr Sozialkontakte haben. Andere wollen wiederum nur in Ruhe gelassen werden. „Die Wahrheit und die Lösung sind individuell und liegen beim Betroffenen“, so Kleber. Zu ihren Handlungsstrategien gehöre, Wertschätzung und Respekt zu zeigen, dass die Betroffenen überhaupt gekommen sind, und viel Lob. Es gelte, zuzuhören, nicht zu schnell zu verstehen, das Anliegen zu klären und die Grenzen zu respektieren. Wenn man die Ziele definiere und den Prozess begleite, müsse man dem Gegenüber immer Zeit lassen und sein Tempo akzeptieren.
Kleber arbeitet mit Skalen. „Wie zufrieden sind Sie mit der Umsetzung des Teilziels?“ lautet etwa eine Frage, die der Klient mit einer Einordnung auf einer Skala von 1 bis 10 beantworten soll. Kleber: „Bei einer drei kann man schon loben.“ Wenn z.B. wenigstens schon die Werbung weggeschmissen wurde. Kleber setzt auch ein Gefühlstagebuch ein und lässt auf einem „Systembrett“ den Klienten den Ist-Zustand seiner Sozialkontakte aufzeigen. Wie groß ist der Abstand zwischen Mutter und Tochter? Gibt es da schon Veränderungen? Gibt es schon eine Annäherung an die Nachbarn? Wie sähe das Optimum der Kontakte aus?
Am effektivsten seien kurze Gesprächssequenzen, so Kleber, die zudem klarstellte, dass man ohne eine Kooperation und Vernetzung mit anderen Instanzen nicht weiterkomme. Wedigo von Wedel nannte als praktische Konsequenzen sozialer Arbeit mit Messies: „Haltungen vor Methoden, und Handeln vor Planen.“ Nur über den Menschen könne man zu seinen Problemen kommen, und nicht umgekehrt. Und die Gestaltung der Arbeitsbeziehung müsse klar und verlässlich sein.
Vom Müssen zum Wollen und Machen kommen
Für Rehberger sind bei den psychoanalytischen, deutenden und interaktiven Behandlungen die „Aufklärung über die Wurzeln der widersprüchlichen Charakterzüge und über ihr Zusammenwirken und das Umlernen der Verhaltensmuster entscheidend.“ Das Neulernen von neuen Verhaltensmustern werde in der therapeutischen Begegnung möglich. Den Erkrankten werde die Chance eröffnet, ein freies Verhalten einzuüben. Die Kurzformel sei, „vom Müssen zum Wollen und Machen zu kommen und nicht mehr wie untertänig, gezwungen, unpersönlich und verschlossen sondern frei, persönlich, ebenbürtig und offen aufzutreten.“
Michael Freitag
*Fachtagung des AK Ambulante Sozialpsychiatrie in Hamburg – Originalveröffentlichung im EPPENDORFER 7&8 2016
(Über Neues zum Thema – so über ein aktuelles Projekt und ein neues Fortbildungsangebot – berichten wir in der nächsten EPPENDORFER -Printausgabe, die Anfang September erscheint. )