Asmus Finzen und
die Normalität

Konzeptkunst, die unter die Haut geht: Pjotr Andrejewitsch Pawlenski nähte sich 2012 aus Protest gegen die Verhaftung von Mitgliedern der Band Pussy Riot den Mund zu – eine Demonstration für die freie Meinungsäußerung. Foto: screenshot/Youtube/arte

Pjotr Andrejewitsch Pawlenski, ein russischer Konzeptkünstler, näht sich den Mund zu, wickelt sich nackt in Stacheldraht ein, legt sich in St. Petersburg vor ein Regierungsgebäude. Mit solchen spektakulären Kunstaktionen bringt Pawlenski seinen passiven Widerstand gegen das russische Regime zum Ausdruck, so zum Beispiel auch gegen die Inhaftierung von Mitgliedern der Punkband Pussy Riot. Im Oktober 2014 sitzt er nackt auf einem Moskauer Dach und schneidet sich ein Ohrläppchen ab. Eine seiner Mitarbeiterinnen sagt: „Das Messer trennt das Ohrläppchen vom Körper. Die Betonwand der Psychiatrie trennt die Gesellschaft der vernünftigen von den unvernünftigen Kranken.“ Im Oktober 2017 wird der inzwischen geflüchtete Pawlenski in Paris verhaftet, weil er eine Filiale der „Banque de France“ in Brand setzt. Er wolle eine „neue Revolution entfachen“, da die „Bankiers heute den Platz der früheren Monarchen“ eingenommen hätten. Es folgt eine Zwangseinweisung in die Psychiatrie, man attestiert ihm Wahnvorstellungen und eine Borderline-Persönlichkeitsstörung. Trotzdem wird der Beschluss wieder aufgehoben. Er kommt in isolierte Untersuchungshaft. Im Januar 2019 wird er zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt (zwei Jahre davon zur Bewährung).

Die Figur des Pjotr Andrejewitsch Pawlenski mag einen mit Schrecken erfüllen. Man könnte denken, da sei jemand sehr tief und sehr schwer gestört, man könnte denken, dieser Mensch sei „krank“, er sei „nicht normal“, er zeige „heftigste Symptome“ usw.. Man könnte aber auch denken: Wie großartig! Wie klarsichtig! Wie mutig!


Wer über dieses Thema, also über die Frage nachdenken will, was das eigentlich ist, „das Normale“, dem sei das 2018 erschienene Buch von Asmus Finzen ans Herz gelegt: „Normalität: Die ungezähmte Kategorie in Psychiatrie und Gesellschaft“. Vielleicht ist es ein Qualitätsmerkmal von Finzens Text, dass der Leser (zumindest geht es der hier Schreibenden so) ziemlich durcheinandergerät mit dem bisher für klar und selbstverständlich gehaltenen Verständnis von normalem versus anormalem Verhalten, von krankhaften versus gesunden Zuständen, von Symptomen, Zeichen und Befindlichkeiten. Ebendiese vermeint-lichen Klarheiten zu be- und zu hinterfragen und andere Perspektiven zu eröffnen ist das Anliegen des Buches.

Andere Perspektive durch Konfrontation mit Zahlen


So kann eine andere Perspektive allein dadurch entstehen, dass wir uns mit Zahlen konfrontieren, die uns zumindest innehalten lassen: „Etwa eine Million Mitbürger/innen wird in jedem Jahr wegen akuter seelischer Störungen in psychiatrische oder psychotherapeutische Kliniken aufgenommen und wieder entlassen. Mindestens jeder fünfte von uns muss damit rechnen, irgendwann in seinem Leben in eine solche Klinik eingewiesen zu werden. Etwa 10.000 Menschen jährlich nehmen sich in unserem Land das Leben, mehr als 100.000 versuchen, sich zu töten. Die Zahl der (illegal) Drogenabhängigen wird auf mehrere Hunderttausend, die Zahl der Alkoholkranken auf mehrere Millionen geschätzt …“ (Finzen, S. 46) Diese Zahlen bringen unsere Vorstellung ins Wanken, dass doch die allermeisten Menschen in unserer Gesellschaft „normal“ seien – im Sinne psychischer Gesundheit – und nur ein sehr kleiner Teil davon abweiche: im Sinne der Anormalität, also der psychischen Krankheit.

„Es gibt keine klaren Grenzen zwischen seelischer Gesundheit und seelischer Krankheit”


So heißt es im (von Finzen zitierten) MIND-Manifest* von 1971: „Es gibt keine klaren Grenzen zwischen seelischer Gesundheit und seelischer Krankheit. Die meisten psychisch Kranken erleben Phasen innerer Stabilität und Einsichtsfähigkeit. Die meisten Menschen leiden unter unbegründeten Ängsten und zeitweisen depressiven Verstimmungszuständen. Die psychisch Kranken sind keine besondere Menschenart, die mit der Welt, in der wir leben, und unseren alltäglichen Erfahrungen nichts zu tun hätten: Sie sind wie wir; und wir sind wie sie.“

„Sie sind wie wir; und wir sind wie sie”


Aber wer sind dann „sie“, und wer sind „wir“? Wir, nun ja, wir sind die Gesunden, die Normalen, wir spielen mit, wir sind auf der sicheren Seite. Sie, das sind die Kranken, die „Anormalen“, die psychisch Gestörten, auf die zumindest eine der vierhundert Diagnosen passt, die bis zum Jahr 1994 in den einschlägigen Klassifikationssystemen ihren Platz fanden (1968 waren es noch 26). Finzen übt deutliche Kritik an dieser „wundersamen Vermehrung der Diagnosen“. Nicht zu einem besseren Verständnis psychischer Krankheiten habe diese geführt, sondern eher zu einer Zersplitterung und Unübersichtlichkeit psychiatrischer Diagnostik. Es seien nur wenige Krankheiten hinzugekommen
(z. B. die Posttraumatische Belastungsstörung und die Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung), dafür seien andere gestrichen worden. Homosexualität zum Beispiel galt noch bis 1980 (!) im „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders II“ (DSM II) als eine psychiatrische Diagnose.
Wie aber ist sie zu verstehen, diese zunehmende Zersplitterung – fast könnte man sagen: Fragmentierung – in der psychiatrischen Diagnostik? Warum ist es so wichtig, jedem Symptom, jedem Verhalten, jedem Zeichen, mit dem ein Mensch ein bisschen „aus der Reihe tanzt“, einen Stempel aufzudrücken?

Vielleicht brauchen wir die Stempel, um uns das Fremde vom Leib zu halten …


Kaum ein Patient, so Finzen, verlässt die Klinik mit weniger als drei Diagnosen. Und die Diagnosen werden nicht gestellt, weil der Patient einen bestimmten Leidensdruck äußert, sondern weil er die den Diagnosen zugeschriebenen „Kriterien erfüllt“. Warum kann es nicht vielmehr darum gehen, gemeinsam mit dem Patienten sein Problem und seinen Leidensdruck zu entschlüsseln und zu verstehen, mit dem Ziel, dass er für sich und sein Leben neue Sichtweisen und Spuren entdecken kann? Ein solcher Diskurs aber könnte nur jenseits der von Finzen verhandelten Kategorien des Normalen/Unnormalen und des Gesunden/Kranken gelingen. Und auch die Diagnosen, die dem psychiatrischen Tun scheinbar Entlastung und Sicherheit geben, würden längst nicht mehr eine so bedeutende Rolle spielen.
Aber vielleicht brauchen wir die Stempel, die Etiketten, die Labels auch, um uns das Fremde vom Leib zu halten, wir versichern uns der eigenen „Normalität“, die sicher auch ein wenig öde ist, und gucken neugierig auf das „Unnormale“, das „Verrückte“, das „Kranke“.


Wie erleichternd und wohltuend, als neulich ein erfahrener Psychotherapeut – nach seiner Haltung zur psychiatrischen Diagnostik befragt – sagte: „Also ich krieg’s gar nicht hin, wenn mir jemand gegenübersitzt, an eine Diagnose zu denken …!“
Und dazu kann einem – jenseits von Normalitäts, -Krankheits- und Gesundheitsdiskursen – der Philosoph Emmanuel Levinas einfallen, der einst sagte:

„Einem anderen Menschen zu
begegnen heißt, ununterbrochen
von einem Rätsel wachgehalten
zu werden“.

                    Martina de Ridder 

(Originalveröffentlichung im EPPENDORFER 4/2019)

*Mind = British National Association for Mental Health

Asmus Finzen: „Normalität – Die ungezähmte Kategorie in Psychiatrie und Gesellschaft“, Psychiatrie Verlag, 2018, 144 Seiten, ISBN: 978-3-88414-939-3, Preis: 20 Euro.