In Niedersachsen hält der heftige Streit um die Pflegekammer an. Niedersachsens Sozialministerin Carola Reimann (SPD) bekräftigte unterdessen, dass sie trotz massenhafter Proteste gegen die neue Landespflegekammer an der Einrichtung festhalten werde. „Es bleibt dabei, dass die Pflege eine unabhängige Stimme braucht”, sagte Reimann der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung”. Sie bezweifelte, dass sich an der Online-Petition zur Abschaffung der Pflegekammer, die bereits 40.000 Unterzeichner hat, ausschließlich Pflegekräfte beteiligt haben.
Die Pflegekammer war im August gegründet worden. Hintergrund waren Bescheide, in denen den Mitgliedern der Einzug des Höchstbeitrages angekündigt wurde, wenn sie nicht schnell ihre Einkommensverhältnisse offenlegten. Die Erhebung von Mitgliedsbeiträgen soll die Unabhängigkeit der Kammer gewährleisten. Der Jahreshöchstbeitrag beträgt 280 Euro. Er gilt für Mitglieder ab einem Einkommen von 70.000 Euro, was allerdings kaum eine Pflegekraft verdient.
Die Pflegekammer Niedersachsen ist nach Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein die dritte und bisher größte Landespflegekammer Deutschlands. Die Ministerin räumte ein, dass die kurz vor Weihnachten verschickten Kostenbescheide mit einem pauschal angenommenen Jahreseinkommen von 70.000 Euro ein Fehler gewesen seien. Die „unglückliche” Beitragsordnung müsse überarbeitet werden, sagte Reimann. Die Unterzeichner der Online-Petition sollten bedenken, dass die Arbeitgebervertreter von Anfang an am lautesten gegen die Pflegekammer gewettert hätten, warnte die Ministerin: „Ich habe jetzt das Gefühl, dass der Versuch unternommen wird, wegen eines ärgerlichen Fehlers alte Schlachten neu zu schlagen.”
Der Kammer gehören obligatorisch etwa 80.000 bis 95.000 Pflegefachkräfte mit Abschlüssen in der Altenpflege, Gesundheits- und Krankenpflege sowie der Kinderkrankenpflege an. Sie war 2016 im Landtag mit den Stimmen von SPD und Grünen beschlossen worden. Die Einrichtung soll die professionelle Versorgung pflegebedürftiger Menschen sicherstellen sowie die größte Berufsgruppe im Gesundheitswesen berufspolitisch vertreten und somit gesellschaftlich aufwerten. Sie ist etablierten Heilberufekammern wie der Ärztekammer oder der Apothekerkammer gleichgestellt.
Gewerkschaft ver.di erwägt eine Klage
Die Gewerkschaft ver.di erwägt eine Klage zur Verhältnismäßigkeit der Beiträge in die niedersächsische Pflegekammer. Zwar müsse kaum eine Pflegekraft den Höchstbeitrag von 280 Euro im Jahr zahlen, der ab einem Jahreseinkommen von 70.000 Euro zu entrichten ist, teilte die Gewerkschaftin Hannover mit. Allerdings liege auch der angepasste Beitrag von 0,4 Prozent für viele Pflegekräfte wesentlich über dem ursprünglich vom niedersächsischen Sozialministerium kalkulierten Beitrag von vier bis acht Euro pro Monat.
Experten halten die umstrittene niedersächsische Pflegekammer für sinnvoll, um den Pflegeberuf langfristig zu stärken. Stefan Görres, Pflegeforscher an der Universität Bremen, nennt die Pflegekammer „ein Kraftpaket für die Pflege der Zukunft”. Gerade in Zeiten des Pflegenotstandes brauche der Beruf eine kräftige Stimme, sagte Görres dem Evangelischen Pressedienst (epd). Auch wenn es seitens der Politik grundsätzlich mehr Sensibilität bei der Umsetzung bedürfe, mache Niedersachsen „im Prinzip alles richtig”.
Die Schwierigkeiten in Niedersachsen seien vor allem auf die unzureichende Information der Pflegekräfte zurückzuführen. „Wir haben festgestellt, dass zwei Drittel der Pflegenden nicht richtig wussten, welche Vorteile eine Kammer mit sich bringt”, sagte Görres. Dabei beantworte sie ethische Fragen, biete Fort- und Weiterbildungen und sichere die Qualität der Pflege. Gegenwind habe es anfangs auch von Vertretern anderer Interessensgruppen wie Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbände gegeben. Sie hätten vor der Pflegekammer gewarnt und an mancher Stelle absichtlich Desinformation betrieben. Unter anderem fürchteten sie, eigene Mitglieder an die Konkurrenz zu verlieren oder für die vorgesehenen Fortbildungen selbst aufkommen zu müssen.
Auch Hartmut Remmers, Pflegewissenschaftler an der Universität Osnabrück, hält die Pflegekammer für notwendig. Allerdings müssten zunächst einige „Systemfehler” behoben werden. So sei etwa nicht berücksichtigt worden, dass in bestimmten Pflegebereichen nur sehr wenig Geld verdient werde, erläuterte Remmers. Viele Pflegekräfte könnten sich den Pflichtbeitrag für eine Mitgliedschaft in der Pflegekammer schlicht nicht leisten. Sinnvoller sei deshalb eine Mitglieder- und Beitragsordnung, die vorsieht, dass ein einkommensabhängiger Beitrag erst oberhalb einer bestimmten Grenze zu zahlen sei.
Pflegewissenschaftler für Zwangsmitgliedschaft
Remmers hält auch eine Zwangsmitgliedschaft für sinnvoll: „Wenn die Kammer auf eine Zwangsmitgliedschaft verzichtet, dann hat sie nicht die Legitimation, für den gesamten Beruf zu sprechen.” Über die Kammer hinaus brauche die Pflege mehr Unterstützung aus der Politik: “Ohne überzeugende politische Arbeit wäre die neue Kammer ohnehin eine Fehlgeburt.” In Rheinland-Pfalz habe die Landesregierung einer Untersuchung zufolge eine kluge sozial-politische Strategie verfolgt und den gesamten Berufsstand von Anfang an in die “Verkammerung” eingebunden. Dagegen habe die niedersächsische Regierung versucht, die Pflegekammer per ministeriellem Kraftakt zu gründen. Trotzdem bleibe das Vorhaben wichtig und richtig.
Initiator der Online-Petition schlägt Verein vor
Der Initiator der Online-Petition, Stefan Cornelius, erneuerte unterdessen in einem Zeitungsinterview seine Kritik. Er sieht in einem Verein eine gute Alternative zur umstrittenen Kammer. In Bayern funktioniere dieses Modell, sagte Cornelius der Oldenburger „Nordwest-Zeitung”. Ihn störe bei der Pflegekammer in Niedersachsen vor allem der Zwang zur Mitgliedschaft und der Umgang mit persönlichen Daten der Betroffenen. Er und das Vorbereitungsteam hätten sich vor allem Gedanken um die demokratische Ausrichtung der Kammer gemacht, sagte der examinierte Krankenpfleger aus Berge bei Osnabrück. Zur ersten Kammerversammlung seien nur rund die Hälfte der 80.000 bis 95.000 Pflegekräfte wahlberechtigt gewesen. Zudem seien bei den Arbeitgebern Daten von Mitarbeitern ohne deren Einwilligung erhoben worden. (epd)