Neonazis, Reichsbürger, Pegida, eine AFD bei 15 Prozent und immer mehr gewaltsame Übergriffe auf Migranten: Inwieweit dies bis heute – neben anderen Hintergründen – Folgewirkungen des Nationalsozialismus und dessen „Gefühlserbschaft“ sind, erläuterte im Rahmen eines Vortrags in der Hamburger Universität Dr. Jan Lohl vom Sigmund-Freud-Institut Frankfurt.
HAMBURG. In Teilen Deutschlands ist die Bereitschaft, Gewalt gegenüber „Fremden“ zumindest zu dulden, Umfragen zufolge inzwischen erschreckend hoch. Für Jan Lohl ist dies auch ein Erbe des Nationalsozialismus. Der Frankfurter hat 2008 über das Thema „Gefühlserbschaft und Nationalsozialismus“ promoviert. Aktuell untersucht er mit Studierenden der Frankfurter Goethe-Universität rechte Rhetorik am Beispiel von Pegida und der AfD. Der Begriff der „Gefühlserbschaft“ geht auf Sigmund Freud zurück, der bereits 1912/13 einen Zusammenhang zwischen verleugneter Schuld der älteren Generationen und der Erahnung derselben bei den Nachfahren vermutete, erklären Angela Moré und Jan Lohl in der Einleitung ihres gemeinsam herausgegebenen Tagungs-Sammelbands „Unbewusste Erbschaften des Nationalsozialismus“ (psychosozial-Verlag 2014). Die älteren Generationen geben demnach an die nachfolgenden Generationen gerade das weiter, „was sie vor diesen, aber auch vor sich selbst verbergen wollen“, und das unbewusst, „in verschlüsselten Botschaften und Signalen“.
Nicht reden, sondern schweigen war typisch für die Tätergeneration, die während der Nazizeit die „grandiose Erfahrung vermeintlicher arischer Überlegenheit des Herrenmenschen“ gemacht hatte. Alexander und Margarete Mitscherlich stellen in ihrem 1967 veröffentlichten Klassiker „Die Unfähigkeit zu trauern“ fest, dass es die Anhänger und Mitläufer des Naziregimes vermieden, sich mit ihrer eigenen Unmenschlichkeit und ihren Größenfantasien (über andere Menschen und Völker zu herrschen) auseinander zu setzen. Statt dessen pfropften sie ihren eigenen Nachkommen unbewusst ihre abgewehrten Schuld- und Schamgefühle auf.
Dahinter wird auch die Absicht gesehen, den schwer beschädigten kollektiven Narzissmus der Nazi-Zeit unbewusst zu bewahren. Lohl spricht von „Kryptisierung“ des Herrenmenschentums, einer Verwahrung an einem verborgenen psychischen Ort „in Erwartung seiner Auferstehung“. Somit lebten das Herrenmenschen-Selbst und der kollektive Narzissmus unbewusst fort. Viele Kinder kriegten Kälte und Gewalt zu spüren, wenn sie Fragen zur Nazizeit und den faschistischen Verbrechen stellten. Folge: Um Aggressionen zu vermeiden, schwiegen auch sie.
Die Geschichte wurde dennoch nonverbal weiter vermittelt, das Schweigen der Eltern unbewusst mit Phantasien über deren Fühlen und Handeln in der NS-Zeit ausgemalt. „Die mächtigsten Geschichten der Eltern sind die nicht erzählten“, so Lohl. Als Beispiel nennt er den Fall des Sohns eines NS-Täters, der unter einem wiederkehrenden Alptraum litt. Dabei wurde er von unbekannten Männern von hinten erwürgt. Es stellte sich heraus, dass der Vater als Soldat immer einen Draht dabei gehabt hatte, um den Feind von hinten zu erdrosseln – ein Aspekt, über den der Vater bis dahin nie gesprochen hatte und den der Sohn im Traum reinszenierte.
In der dritten, der Enkelgeneration, die ebenfalls unbewusst mit Fantasien über die Taten der familiären Täter beschäftigt gewesen sei, stellte Lohl indes einen Hang zur Idealisierung und Heroisierung der Täter-Großeltern fest – bis hin zur Verdrehung von Wahrheiten, die einfach nicht gehört oder „umgedichtet“ worden seien.
In rechtsextremen Gruppierungen werden die Phantasien über die Geschichte der Großeltern nicht mehr als Bedrohung des Selbst gefürchtet. Eine typische Abwehr-Strategie, die Lohl bei rechtsextremen Enkeln von Tätern feststellte: Im Zweiten Weltkrieg seien doch auch einige Taten vollbracht worden, auf die man stolz sein könne. Eine weitere Strategie ist eine Täter-Opfer-Umkehr dergestalt, dass behauptet wird, die Täter seien ja auch einer ungeheuren Bedrohung durch die Opfer ausgesetzt gewesen.
Auch in der neueren Untersuchung rechtspopulistischer Propagandareden erkannten die Frankfurter Forscher ein „psychisches Angebot“, auf bestimmte Weise mit der NS-Zeit umzugehen. Eben zum Beispiel in Form der „Täter-Opfer-Umkehr“. Als Beispiel nannte Lohl die Rechtspopulistin Tatjana Festerling, die von „Herrenmenschen“ in der Politik rede und Björn Höcke, der von der „Kanzlerdiktatorin“ spreche und eine Erinnerungskultur fordert, „die uns vor allen Dingen und zuallererst mit den großartigen Leistungen der Altvorderen in Berührung bringt“. Auch bei den Rechtspopulisten – deren Agitatoren der Enkelgeneration zugehören – sieht Lohl ein direktes Anschließen an die braune Gefühlserbschaft – und eine Wiederauferstehung beziehungsweise Neukonstituierung der über Zeit und Generationen hinweg bewahrten und weitergetragenen Idee der Nationalsozialisten vom deutschen Herrenvolk. Anke Hinrichs (Originalveröffentlichung: Sommer 2017)