Ein Leuchtturm
für die Psychiatrie

Der vermutlich bekannteste Leuchtturm in Cuxhaven: Die „Dicke Berta“ in Altenbruch. Foto: Anke Hinrichs

Sie sind ein Kernstück der aktuellen niedersächsischen Psychiatriepolitik: Im Rahmen von Gemeindepsychiatrischen Zentren (GPZ) sollen Modelle für eine bessere Versorgung schwer psychisch kranker Menschen ausprobiert werden.

Unter acht Bewerbungen setzten sich zwei Projekte für eine Landesförderung von jeweils gut 200.000 Euro in drei Jahren durch. Während in Braunschweig neue Wege für städtische Regionen entwickelt werden, liegt der Fokus im Raum Cuxhaven darauf, dünn besiedelte ländliche Gegenden besser zu versorgen. Das geschieht im Modellprojekt Leuchtturm Cuxhaven mit viel Kreativität und Engagement sowie unter Einbindung aller Beteiligten, wobei ein besonderer Fokus auf der Förderung und Ausbildung von Genesungsbegleitern liegt. Zentrales Element ist ferner ein innovatives IT-System. Trotz Corona und des Ausfalls der geplanten Auftaktveranstaltung startete das Ganze am 1. Juli mit einer ersten Klientin: einer schwer depressiven Frau, die aus der Presse von dem Modell erfahren hatte und sich bessere Hilfe erhofft.

Schlecht angebundene Ortschaften

Kaum Fachärzte, dünne Besiedlung, verkehrstechnisch schlecht angebundene Ortschaften: Da kann es schon mal vorkommen, dass Sabine Wolters für eine Zwangseinweisung mit Hin- und Rückfahrt einen halben Tag verbringt und das schwer psychisch Kranke durchs Netz fallen und erst spät Hilfe bekommen – mitunter auch zu spät für eine Hilfe auf freiwilliger Basis. Im Landkreis Cuxhaven mit seinen knapp 200.000 Einwohnern will man dies für eine geschätzte Klientel von bis zu 200 Menschen besser hinbekommen, und zwar trägerübergreifend gut vernetzt – ohne ein ganz neues Hilfeangebot und mit Hometreatment.

Kreiert wurde das Projekt ursprünglich von Prof. Uwe Gonther, Ärztlicher Direktor der AMEOS Psychiatrien in Bremen, Debstedt und Cuxhaven, Dr. Matthias Walle, Leiter eines Psychiatrie-MVZ in der Region, und Sabine Wolters, Ärztliche Leiterin des Sozialpsychiatrischen Dienstes Cuxhaven. Die Psychiaterin war viele Jahre in der Psychiatrie Bremerhaven-Reinkenheide tätig, bevor sie vor zwei Jahren zum Sozialpsychiatrischen Dienst wechselte. Ebenfalls mit dabei: Thelke Scholz, starke Stimme der Genesungsbegleiter und projekterfahrene Autorin aus Bremervörde, der Sozialpsychiatrieexperte Michael Tietje sowie Vertreter von Angehörigen. Evaluiert wird das Projekt von Dr. Luciana Degano Kieser von der FU Berlin.

Vernetzte Patientenakte

Nachdem Anfang Oktober 2019 der Zuschlag erteilt wurde, startete das Projektteam mit der Umsetzung. Gabriele Knuth von der Hamburger Managementgesellschaft IVPNetworks (IVP steht für Integrierte Versorgungsprogramme, Geschäftsführer: Dr. Matthias Walle) koordiniert das Projekt, und gemeinsam mit einer Netzwerkmanagerin der IVP konnten bereits fast 30 Leistungserbringer mit ins Boot geholt werden: von Einrichtungen des Betreuten Wohnens über ambulante psychiatrische Pflege bis zu Psychotherapeuten und Fachärzten. Großer Vorteil des Ganzen: Von IVPNetworks wurde die bereits vorhandene IT-Plattform IVPnet auf die Anforderungen des Projektes angepasst und weiterentwickelt. Kern ist eine für alle Beteiligten einsehbare Patientenakte. Besonderheit: Auch die Patienten selbst können diese einsehen und dort für sie wichtige Aspekte eintragen. Falls ihnen das technisch nicht möglich ist, hilft ihnen eine der in Hemmoor und Cuxhaven angesiedelten Koordinationsstellen. Diese sind mit Genesungsbegleiterinnen besetzt und bieten zweimal wöchentlich Sprechzeiten.

Geteilte Verantwortung

Die Cuxhavener Anlaufstelle ist in der Tagesklinik-Außenstelle des AMEOS Klinikums Debstedt angesiedelt, deren Einrichtung 2018 bereits eine große Verbesserung für die Region gewesen sei, so Wolters. Die zweite Anlaufstelle befindet sich im MVZ in Hemmoor. Hier sitzt auch ein ambulanter Pflegedienst, der die 24/7 -Krisen-Hotline abdeckt und zur Not auch zu den Patienten nach Hause fahren kann.

Sabine Wolters (links) und Gabriele Knuth. Foto: Anke Hinrichs

Im übrigen herrscht das Prinzip der geteilten Verantwortung, wobei der- oder diejenige den Hut aufhat, der oder die den Patienten zuerst eingeschrieben hat. In der Folge können aber alle Netzwerkpartner über die elektronische Akte auf einen Blick ersehen, aus welchen Bausteinen sich die Behandlung und Betreuung des Klienten zusammensetzt – und was gerade anliegt.

Das ist sonst oft ganz mühsam bei Hausbesuchen herauszubekommen, was es alles gibt, was verschrieben wurde und wann das Rezept ausläuft und welche Bezugspersonen es gibt.

Sabine Wolters

Über die Akte können die Beteiligten etwa auch sehen, dass der Patient z.B. noch für zwei Monate Anspruch auf ambulante Pflege hat und früh eine Überleitung in Betreutes Wohnen in die Wege leiten. Oder einen Termin bei einem Psychiater organisieren, wenn bei einem Patienten sonst Abbrüche drohen.

Individuelle Rückzugsmöglichkeiten

Kreatives Herzstück des Leuchtturm-Modells ist ein ganz besonderer Rückzugsort: Weil die Wege etwa aus Hemmoor in ein Krisenzimmer oder ein Café in Cuxhaven im Ernstfall zu weit weg wären, werden mit den Patienten individuelle Rückzugsmöglichkeiten erarbeitet, die je nach Bedarf Ruhe, Ansprache, Sicherheit oder Gemeinschaft sichern sollen. Das kann auch eine Couch im Pflegeheim nebenan sein. Oder auch ein Waldspaziergang oder das Abendessen bei der Familie nebenan. „Entlastung kann für jeden anders sein“, erklärt Gabriele Knuth. „Das ist eine Herausforderung für Nachbarsfamilien, wenn dann der Nachbar doch in eine Psychose rutscht. Aber wenn es Probleme gibt, gibt es als Anker immer Soforthilfe bei der Krisenhotline“, erläutert Wolters.

Vieles, was in Cuxhaven passiert, basiert — unabhängig von der finanziellen Förderung – vor allem auf viel Austausch und Engagement. „Wir müssen und wollen zeigen, dass es läuft“, sagt Sabine Wolters.

Anke Hinrichs

Aus: EPPENDORFER 6/20