„Er war nicht in Panik. So viel steht fest. Es war die Nacht zum 3.Dezember 2018, Stunden vor dem größten Triumph seiner Karriere. Pressedeutschland würde sich bald wieder geschlossen vor ihm verneigen. Zum vierten Mal würde er den Reporterpreis gewinnen. Vier Mal in fünf Jahren. Das hatte es noch nie im Journalismus gegeben….“
Mit diesen Sätzen beginnt das im Oktober dieses Jahres erschienene Buch von Juan Moreno „Tausend Zeilen Lüge“, in dem der Autor den jüngsten Fälschungsskandal um den mit mehr als vierzig Journalistenpreisen ausgezeichneten Starreporter des „Spiegel“ Claas Relotius rekonstruiert. Jahrelang hatte dieser Geschichten für den Spiegel geschrieben, ca. 60 Texte, die zum größten Teil frei erfunden waren.
Wie beschämend und wie peinlich für die Spiegel-Redaktion – und in diesem Falle für die ganze Branche – in derartig krasser Weise einem Lügner aufgesessen zu sein! Denn ALLE hatten ihm geglaubt, alle bewunderten ihn als ein „Jahrhunderttalent“, er war ein leuchtender Stern am Journalistenhimmel, bis er am 3. Dezember 2018 aufflog. Als Täuscher, als Fälscher, als Lügner.
Aber wie ist dies möglich? Und wie ist es zu verstehen, dass ein Mensch über lange Jahre permanent die „Unwahrheit“ sagt bzw. schreibt? Und wie ist es möglich und zu verstehen, dass die Spiegel-Redaktion sowie die gesamte Leserschaft dieses immer noch bedeutendsten deutschen Nachrichtenmagazins – ihm glaubte? Denn zum Lügen – als einem kommunikativen Akt – gehören immer zwei: der Lügner braucht den Belogenen, an den er sich richtet. Und er ist angewiesen darauf, dass dieser ihm – dem Lügner – Glauben schenkt.
Doch erst einmal zu der Frage: Was ist überhaupt eine Lüge? Seit Jahrhunderten ist über die Lüge viel gedacht und geschrieben worden. Wissenschaft, Literatur, Philosophie und Psychologie haben sich mit ihr befasst. Schon im vierten Jahrhundert definierte der Bischof von Konstantinopel Chrysostomos die Lüge als „eine Kunst“, deren moralische Bewertung allein in der Absicht des Lügenden zu finden sei.
Für Aurelius Augustinus ist demgegenüber „alles Lügen schuldhaft“, in der Linguistik ist die Lüge schlicht „ein Sprechakt der unaufrichtigen Behauptung“, für Immanuel Kant ist Wahrhaftigkeit eine „unbedingte Pflicht, die in allen Verhältnissen gilt“ und Nietzsche spricht vom Lügner als einem „Bruder des Dichters.“
Was aber sagt – jenseits der Linguistik und Moralphilosophie – die Psychologie und Psychiatrie zur Lüge? Und wie ist sie – die Lüge – aus dieser Perspektive zu verstehen und einzuordnen? Hier interessiert also zunächst weniger die moralische Bewertung von Gut und Böse, sondern vielmehr der psychische Impuls, der Menschen lügen lässt. Oder auch die physische Verfasstheit wie z.B. die von Drogenabhängigen, die in der Situation extremen Suchtdrucks zu JEDEM Mittel, also auch zur Lüge, greifen, um ihre Sucht zu stillen. Süchtige sind oft hochkompetente Lügner, und nur wenn man begriffen hat, dass ihre Motivation zur Lüge in ihrer tiefen süchtigen Not liegt, wird man gut mit ihnen arbeiten können, um sich nicht andauernd so gemein „über den Tisch gezogen“ zu fühlen.
Am interessantesten und am schwierigsten zu verstehen erscheinen jedoch die „notorischen Lügner“ , zu denen – so hat es zumindest deutlich den Anschein – der o.e. Claas Relotius zählt. Ist Claas Relotius krank oder kriminell? Oder ist er einfach nur böse? Sozusagen ein „schlechter Mensch“? Kriminell ist er sicher nicht, da seine Lügen nicht justitiabel sind. Die Tatsache, dass er unzählige Geschichten frei erfand statt sie ordentlich und ehrlich zu recherchieren, bildet keinen Straftatbestand, da er niemanden damit Schaden zufügte. Trotzdem kann man die Frage stellen, ob man einen Relotius für seine Lügen zur Rechenschaft ziehen und in die Verantwortung nehmen kann oder ob man sagen darf bzw. muss: Der Mann ist krank.
Schon 1891 erschien die von dem Psychiater Anton Delbrück verfasste Habilitationsschrift „Die pathologische Lüge und die psychisch abnormen Schwindler“. Darin wird erstmals der Begriff der Pseudologia Phantastica geprägt. Diese bezeichne „das krankhafte Verlangen zu lügen“ und sei eine „abnorme Variation des seelischen Wesens“.
Heutzutage ist Prof. Dr. Hans Stoffels – lange Jahre Chefarzt der Berliner Schlosspark-Klinik – der renommierteste Psychiater, der sich mit dem Krankheitsbild der „Pseudologia Phantastica“ befasst und mehr als vierzig Fallgeschichten pathologischer Lügner zusammentrug und analysierte.
Circa 1000 Pseudologen in Deutschland
Der Großteil der ca. eintausend Pseudologen, die es – so Stoffels – in Deutschland gebe, litten zumeist unter einer schweren narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Sie hätten in Kindheit und Jugend oft unter tiefreifenden Defiziten an Zuwendung und Anerkennung gelitten. Gleichzeitig zeichneten sie sich aber durch eine zumeist überdurchschnittliche Intelligenz, über eine hohe Kreativität und nicht selten eine große Sprachbegabung aus.
Diese Kompetenzen scheinen nun in der Pseudologia Phantastica quasi zum Werkzeug einer Selbstheilung zu werden. Durch seine kreativen und intelligenten – aber leider eben gelogenen – Selbstinszenierungen heilt der Lügner seine frühen Wunden, er erfährt eine Aufwertung, Anerkennung und Wertschätzung, die zwar nur auf seinen Lügen fußt, aber in gewisser Weise eben doch IHM gilt, da seine Lügen ja schließlich SEINE Erfindungen sind. Sich mit diesen zu konfrontieren, und das wäre Aufgabe einer Psychotherapie, würde bedeuten, dass der „Lügner“ bereit sein müsste, sich seiner im Innern schwachen, gekränkten und entwerteten Seele zuzuwenden und die Großartigkeit und den Glanz seiner inszenierten Identität aufzugeben. Dazu hat er aber – wenn überhaupt – erst dann einen Grund, wenn sein Lügengerüst nicht mehr funktioniert, d.h. wenn er in die Enge getrieben und schließlich enttarnt wird.
In diesem Sinne verstanden, ist die Pseudologia eine Überlebensfigur, die sicherlich so lange ihrem Erschaffer dient und nützt, wie die Adressaten ihr glauben. Aber warum diese das immer wieder – und im Fall des Claas Relotius, wie in den meisten anderen Fällen auch, über lange Jahre – tun, dies wäre nun die nächste spannende Frage. Aber das ist eine andere Geschichte.
Juan Moreno: Tausend Zeilen Lüge – Das System Relotius, Rowohlt Berlin, 2019