BERLIN. Nur 50 Prozent der Demenzkranken werden in der Versorgung als solche erkannt. Noch weniger erhalten eine Behandlung nach den medizinischen Standards. Verbessern soll diese Situation u.a. die vollständig überarbeitete „Leitlinie Demenzen“, die jetzt im Rahmen einer Pressekonferenz in Berlin vorgestellt wurde.
Die Angst in der Bevölkerung vor dementiellen Erkrankungen sei groß, dennoch würden diese stiefmütterlich behandelt, kritisierte Prof. Dr. Wolfgang Maier, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Bonn, auf einer Pressekonferenz in Berlin. So erhält nach den Ergebnissen von Versorgungsstudien weniger als die Hälfte der Demenzkranken eine leitliniengerechte Behandlung. Viele Ärzte hätten Vorurteile, die Demenz lasse sich nicht günstig beeinflussen. Daher gebe es Defizite bei der Diagnosestellung und der Versorgung der Betroffenen, begründete Maier.
Um diese Situation zu verbessern, haben die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) und die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) in Kooperation mit 23 weiteren Fachgesellschaften, Berufsverbänden und medizinischen Organisationen die S3-Leitlinie Demenz von 2009 aktualisiert und neue Erkenntnisse zur Prävention, Diagnostik und Therapie aufgenommen. Hierauf basierend sollen künftig wissenschaftlich belegte Therapieoptionen stärker genutzt und zugleich weniger sinnvolle Maßnahmen unterlassen werden. Die aktuelle Leitlinie bildet zudem die Grundlage für die Entwicklung einer Nationalen Versorgungsleitlinie Demenz in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin.
Schutz vor Demenz?
Zu Präventionsmöglichkeiten erklärte Prof. Dr. Frank Jessen, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Köln: „Als Faustregel gilt: Was dem Herz gut tut, hilft auch dem Gehirn.“ Darum empfiehlt er, Diabetes, Bluthochdruck und Übergewicht konsequent zu behandeln, um das Demenz-Risiko effektiv zu reduzieren. Hier sieht er vor allem die Hausärzte gefordert. Als weitere empfohlene Maßnahmen nannte Jessen einen gesunden und aktiven Lebensstil, körperliche Bewegung, ein aktives soziales Leben und Nicht-Rauchen. Zur Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln wird hingegen nicht geraten, weil der Nutzen in Studien bislang nicht belegt werden konnte.
Frühe Diagnose ist möglich
Die Alzheimer-Demenz, die etwa zwei Drittel aller Demenz-Formen ausmacht, lässt sich laut Prof. Dr. Jörg Schulz, Direktor des Neurologischen Universitätsklinikums in Aachen, heute früh erkennen und mit einer Vorhersagestärke von 85 bis 90 Prozent prognostizieren. Daher sollte nach seiner Ansicht jeder Patient mit sicher diagnostizierten klinischen Vorzeichen, einer so genannten MCI (Mild Cognitive Impairment), über die Frühdiagnostik aufgeklärt werden, um sich dann gut informiert für oder gegen diese Option entscheiden zu können.
Frühe Interventionen könnten vermutlich die Chance erhöhen, das Fortschreiten der Erkrankung zu bremsen, zudem könnten die Ergebnisse beispielsweise älteren Menschen bei der Entscheidung helfen, ob sie weiterhin alleine leben möchten oder besser in ein Heim ziehen sollten, so Schulz. Wie er ergänzte, sollte die Frühdiagnostik bei Experten erfolgen und neuropsychologische sowie Laboruntersuchungen, eine zerebrale Bildgebung inklusive nuklearmedizinischer Verfahren sowie die Bestimmung von Neurodegenerationsmarkern in der Rückenmarkflüssigkeit umfassen. Von einem allgemeinen Screening wird hingegen abgeraten, weil die hierfür verfügbaren Untersuchungen im Frühstadium keine ausreichende Sensitivität und Spezifität haben.
Behandlung der Demenz
Die medikamentöse Therapie bei der Alzheimer-Demenz zielt nach den Ausführungen von Prof. Dr. Richard Dodel, Kommissarischer Leiter der Neurologischen Universitätsklinik in Marburg, darauf ab, die kognitiven Fähigkeiten zu verbessern und ggf. psychische sowie Verhaltenssymptome zu lindern. Bei der Entwicklung von neuen Wirkstoffen habe es bisher zwar keine Fortschritte gegeben, doch mit den bekannten Wirkstoffen sei eine effektive Therapie möglich, so Dodel: „Es gibt keinen Grund zum Nihilismus.“ Zu ihnen gehören die Acetylcholinesterasehemmer, die bei der leichten bis mittelschweren Alzheimer-Demenz zum Einsatz kommen, und nach aktueller Kenntnis langfristig gegeben werden sollten. Hinzu kommt Memantin für die moderate bis schwere Alzheimer-Demenz, das gemäß der aktuellen Leitlinie bei schwerer Alzheimer-Demenz auch als Add-On zu dem Acetylcholinesterasehemmer Donepezil verabreicht werden kann.
Darüber hinaus gibt es laut Dodel inzwischen eine Kann-Empfehlung für den Einsatz von Ginkgo Biloba bei leichter bis mittelgradiger Alzheimer-Demenz. Diese beschränkt sich allerdings auf das Präparat EGb 761, das in Studien erfolgreich getestet wurde. Benzodiazepine spielten bei der Behandlung der Alzheimer-Demenz keine Rolle, und Neuroleptika sollten nur nach strenger Indikationsstellung und möglichst nicht länger als drei Monate zum Einsatz kommen, ergänzte Dodel.
Gleichberechtigt zur medikamentösen Therapie empfiehlt die Leitlinie psychosoziale Interventionen. Die Evidenz sei zwar schlechter, doch die Maßnahmen hätten keinerlei Nebenwirkungen. Zudem würden sie breiter wirken und sowohl auf die Kognition als auch auf das Verhalten abzielen, er klärte Maier.
Petra Eiden
Den hohen Stellenwert psychosozialer Interventionen betonte Prof. Wolfgang Maier, DGPPN. „Ansätze und Ziele dieser Verfahren sind wesentlich breiter als die der pharmakologischen Therapien. Gleichzeitig ist aus methodischen Gründen die Qualität der Studien zu den einzelnen Verfahren oft geringer als bei pharmakologischen Prüfungen“, heißt es in der Leitlinie. Im Vergleich zu einer Medikamentenstudie sei beispielsweise eine Verhaltenstherapie weniger leicht „zu verblinden“, eine Studie wegen fehlender finanzieller Anreize auch schwieriger zu finanzieren. Seit der ersten Ausgabe der Leitlinie Demenz sei jedoch eine größere Zahl qualitativ hochwertiger Studien zu psychosozialen Interventionen erschienen, während es bei der Arzneimittelentwicklung keine größeren Fortschritte gegeben habe. Bei Patienten mit leichter bis moderater Demenz sehen die Experten z.B. Evidenz für den Nutzen einer kognitiven Stimulation, nicht jedoch für kognitives Training. Ergotherapeutische Maßnahmen sollten bei Patienten mit leichter bis mittelschwerer Demenz angeboten werden. Als in Bezug auf bestimmte Störungsmuster nützlich bzw. günstig gesehen werden ferner u.a.: körperliche Aktivität und leichtes Training, bestimmte künstlerische Aktivitäten so wie Musiktherapie,Verwendung von Aromastoffen, multisensorische Verfahren (Snoezelen) mit individualisierten, biographiebezogenen Stimuli und Angehörigentraining. Die vollständige Leitlinie ist einsehbar unter www.dgn.org und www.dgppn.de