Jenseits des Vorstellbaren

Drei Psychotherapeutinnen versammeln Therapiekonzepte zum Ausstieg aus organisierter ritueller Gewalt

Auch heute noch zweifelt man an der Existenz organisierter ritueller Gewalt. Man zweifelt an der Existenz einer dissoziativen Identitätsstruktur als auch an ihrer Erscheinungsform: der multiplen Persönlichkeit. Man zweifelt an der Tatsache, dass es Menschen gibt, die Kinder – auch und gerade ihre eigenen – vom Moment ihrer Geburt an abrichten, trainieren und daraufhin konditionieren, unendliche Qualen auszuhalten oder selbst anderen Menschen diese Qualen zuzufügen. Und man zweifelt daran, dass die Täter dies tun, indem sie in diesen Kindern Systeme installieren, die von ihnen – den Tätern – permanent kontrolliert und überwacht werden.

Zweifel ist Schutz für die Täter

Man zweifelt daran, weil man sich nicht vorstellen kann und mag, dass es Menschen gibt, die Kinder dazu zwingen, Tiere und/oder Säuglinge zu töten, ihre Leichen zu sezieren und ihr Blut zu trinken (s. youtube: Rituelle Gewalt in satanistischen Sekten). Und dieser Zweifel, diese Ungläubigkeit der Gesellschaft diesem Grauen gegenüber ist nach wie vor der beste Schutz für die Täter. Demgegenüber steht nun ein umfangreiches Werk, dass das Wissen aus diesem Bereich zu einer Art Kompendium zusammenträgt.

Umfrage unter Psychotherapeuten

Um Informationen über die Häufigkeit des Auftretens ritueller Gewalt zu erhalten, wurden in drei deutschen Bundesländern alle 3225 kassenärztlichen Psychotherapeuten befragt. Rückmeldungen kamen von 1523 Therapeuten. Davon hatten 182 Therapeuten von ihren Patienten Schilderungen im Zusammenhang mit rituellen Gewalttaten erhalten. Insgesamt wurden 213 Fälle genannt.

Geschildert wurden rituelle Opferungen von Tieren, sexueller Missbrauch, Ekeltraining, Leichenschändung, Menschenopferung (zumeist Neugeborene), schwarze Messen, Zwang zu absolutem Gehorsam und absoluter Geheimhaltung. Rund 95 Prozent der Fälle wurden von den Therapeuten als glaubwürdig eingeschätzt. In durchschnittlich 52 Prozent der Fälle bestand während der Therapie noch Täterkontakt. (Wikipedia – Stichwort: Rituelle Gewalt)

Riskante Arbeit für Therapeuten

Drei Frauen, alle mit jahrzehntelanger Erfahrung in der therapeutischen Begleitung schwerst traumatisierter Frauen, haben sich der Herausforderung gestellt, ihre Erfahrungen und ihre Kompetenz in einem Buch – fast könnte man es ein Kompendium nennen – zusammenzutragen: „Befreiung des Selbst – Therapiekonzepte zum Ausstieg aus ritualisierter Gewalt“ lautet der Titel.

Das fünf Seiten umfassende Inhaltsverzeichnis gibt den Lesern eine gute Orientierung über das komplexe Thema. Ungewöhnlich, aber klug gewählt ist die Befassung des ersten Kapitels: „Berufsrisiken und Selbstfürsorge“: Bevor man sich überhaupt mit der Frage konfrontieren soll, was eine therapeutische Begleitung schwerst traumatisierter Menschen den professionellen Helferinnen** im inhaltlichen und fachlichen Sinne abverlangt, soll diesen klar sein, dass sie sich auf eine riskante Arbeit einlassen und dass sie in dieser scheitern werden, wenn sie sich nicht immer wieder ihrer Verbindung mit ihrem Gefühl von Selbstwert versichern.

Nur der eigene, freie und sichere Stand der Patientin gegenüber macht es der Therapeutin möglich, sich dem Grauenvollen zu nähern und gleichzeitig eine ruhige Distanz zu bewahren. Wenn solches gelingt – so Claudia Fliß – erlebe sie eine „spirituelle Verbundenheit“, die über ihre persönliche Kraft hinausgehe.

Auch in den folgenden sechzehn Kapiteln werden die Leser immer wieder auf sich selbst verwiesen. Man wird ermuntert und ermahnt, darauf zu achten, wann das Gelesene zu belastend wird, Atem- und Entspannungsübungen sollen helfen, wieder in Distanz zu kommen.

Leben in zwei Welten

Aber worin genau liegt die Anstrengung, die Belastung und die Zumutung, die eine Begleitung von Menschen aus der organisierten rituellen Gewalt bedeutet? Ein Lehrsatz, den sicher die meisten Therapeutinnen hundert Mal gehört haben, lautet: „…Hol die Patientin da ab, wo sie ist!“ Dieser Satz gilt in ganz besonderer Weise für die Arbeit mit DIS-Patientinnen. Diese leben sozusagen in zwei Welten: der äußeren (Alltags)Welt, die auch unsere ist, und einer inneren Welt, in der – teilweise sehr viele – Innenpersönlichkeiten leben und agieren. Diese Innenpersönlichkeiten sind entstanden durch Dissoziationen (Abspaltungen) von Gewalt- und Leidenssituationen, die für die Betroffenen nicht mehr auszuhalten waren, d.h. jede Innenpersönlichkeit trägt das Trauma in sich und steht unter der absoluten Kontrolle der Täter. Mind control, Systemstrukturen, Programm- aufbau und Programmabläufe sind hier die zentralen Begriffe.

Wie diese Eingriffe ins Innere der Betroffenen im einzelnen möglich sind, wie Systemstrukturen und Programme in ihnen installiert werden und wie sich auf meist sehr langem und mühseligem Wege der therapeutische Prozess des Ausstiegs gestaltet, davon handelt dieses Buch.

„Das Ziel ist die Freiheit“, sagt Claudia Fließ am Ende, die Befreiung aus der Gewalt und Macht der Täter und damit die Eroberung von Unabhängigkeit, Autonomie und der freien Entscheidung über das eigene Leben.
„Seit Beginn der Menschheit hat es Grausamkeiten und Machtinteressen gegeben, das werden wir Menschen nicht ändern. Aber es hat auch schon immer Menschen gegeben, die sich für die Freiheit und für Menschlichkeit eingesetzt haben (…) Je härter die Unterdrückung von Menschen ist, desto stärker regt sich der Widerstand. Menschen schließen sich zusammen und wehren sich. Diese Zeit scheint nun unter den ausstiegswilligen Betroffenen der organisierten rituellen Gewalt angebrochen zu sein: die Sehnsucht nach Freiheit wirkt stärker als die Angst vor Strafen oder dem Tod“, schließt die Therapeutin.

Martina de Ridder

Claudia Fliß, Riki Prins, Sylvia Schramm: „Befreiung des Selbst: Therapiekonzepte zum Ausstieg aus organisierter Ritueller Gewalt“, Gebundenes Buch, 30. Januar 2018, ISBN-Nummer: 978-3-89334-625-7, Asanger-Verlag 2018, 390 Seiten, 49,50 Euro.