Man könnte meinen, der deutsche „Zauberberg“ liege in Braunlage. Hier entwarf der Architekt Albin Müller vor nunmehr 125 Jahren im Auftrag von Friedrich Barner ein prachtvolles Jugendstil-Ensemble, das heute als das letzte Grandhotel-Sanatorium Deutschlands gilt. Das private Fachkrankenhaus für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, die Klinik Dr. Barner, befindet sich bis heute im Familienbesitz – während sich im Laufe der Jahrzehnte die Modediagnosen änderten – von Neurasthenie über nervöse Erschöpfung bis zu Burnout, Depression und somatoformer Schmerzstörung. Die Symptome ähneln sich bis heute.
Was also läge näher, als diesen Ort als „Knotenpunkt moderner Erschöpfungsgeschichte“ zu begreifen und das denkmalgeschützte Haus – unter der Federführung einer Historikerin – „zum Schauplatz einer Archäologie der Erschöpfung“ zu machen, wie es das Presseheft poetisch formuliert. In dem dokumentarisch inszenierten Spielfilm werden Realität und Fiktion auf kluge Weise verflochten. Die Therapeutinnen und Pflegerinnen sind tatsächlich im Haus tätig, während die Patientinnen von Schauspielerinnen verkörpert werden – allen voran Birgit Unterweger und Rafael Stachowiak als Nina und Henri.
Die Zuschauer*innen erleben hautnah, wie sich die beiden durch die verschiedenen Therapieformen bewegen: Osteopathie, Tai Chi, Bewegungstherapie, Kunsttherapie, Schwimmbad, Liegekur. In einem Ambiente, bei dem sich Kassenpatienten die Augen reiben: zwischen Blütentapeten und Damensaal, edlem Speiseraum mit Tischdecken und Kerzen, Zimmern mit Chaiselongue und Badewanne.
In – nachgestellten – Therapiegesprächen öffnet sich der Blick auf die Biografien der ProtagonistInnen: Nina, wohlhabend, aber offenbar am Druck ihres Managerinnenjobs zerbrochen; Henri, einst mit der Sehnsucht, Opernsänger zu werden, jetzt Sozialarbeiter, der in einer Behindertenwerkstatt mit deren zunehmender Kommerzialisierung ringt – und suspendiert wird, weil er einen Jungen schlug.
„Jenseits der Symptome wollte ich filmen, was zwischen den Menschen und ihren Stressoren liegt – um Burnout als soziale Pathologie kapitalistischer Arbeitsverhältnisse zu beleuchten“, erklärt Regisseur Sascha Hilpert.
Als Brücke zur Vergangenheit fungiert eine Historikerin, die im Hausarchiv Dokumente aus der Frühzeit der Kuranstalt aufspürt. Sie schlägt den Bogen vom modernen Achtsamkeitstopos zum Ruhetopos früherer Zeiten, als man mit Luft, Licht, Wasser und Diätkuren äußere Reize zu dämpfen suchte. Heute, so ihre Beobachtung, werde das Konzept der Ruhe durch Achtsamkeit und Innerlichkeit erweitert – und die Art, wie wir dieser Welt begegnen, scheint dabei wichtiger geworden zu sein als Umwelt oder Ungerechtigkeit an sich. (hin)
„Formen moderner Erschöpfung“, D 2024, 118 Min., Geplanter Filmstart: 13.11.

Fast wie auf dem „Zauberberg": „Liegekur" in Braunlage. Foto: © Copyright: Corso Filmproduktion