Die junge Frau steht am Rand einer in den Boden eingelassenen Badewanne neben einer mit Marmor getäfelten Wand. Offenbar hat schon lange niemand mehr dieses Bad benutzt, die Wände sind verdreckt, in den Winkeln türmen sich Staub und Schmutz. Die junge Frau trägt einen geblümten Rock, der ihr bis auf die Füße reicht. Sie hält sich an einem Wasserrohr fest und schaut in das leere Becken vor ihr. Dass es sich um eine Frau handelt, ist nur zu erahnen: Ihr nackter Oberkörper ist so abgemagert, dass alle Rippen vorstehen, ihre Brüste sind gänzlich verschwunden. Ihre Arme sind so dünn, dass eine Vertiefung zwischen Elle und Speiche zu erkennen ist. Das Bild ist ein Selbstportrait der norwegischen Fotografin Lene Marie Fossen, die seit ihrem zehnten Lebensjahr mit Anorexie kämpfte. Ihre Werke werden erstmals im Ausland präsentiert. Das Museum im Lagerhaus in St. Gallen zeigt sie unter dem Titel „Human“.
Es gehe ihr nicht um Magersucht, sondern um menschliches Leid, sagte Fossen selbst über ihre Werke. Die Autodidaktin inszenierte nicht nur ihren eigenen, immer dünner werden Körper in ausdrucksstarken Selbstportraits, sondern zeigte auch Kinder und ältere Menschen. 2015 reiste sie auf die griechische Insel Chios, auf der damals zahlreiche Flüchtlinge anlandeten. In schwarz-weißen, fast hyperrealistischen Aufnahmen bildete die Norwegerin Kinder ab, die die gefährliche Mittelmeer-Überfahrt überlebt hatten. Ebenfalls auf Chios entstanden in einer ehemaligen Lepra-Klinik die Selbstportraits, die ihren eigenen, bis auf die Knochen abgemagerten Körper zeigen.
„Was uns weh tut, ist das, was wir nicht sehen wollen“
„Was uns weh tut, ist das, was wir nicht sehen wollen“, sagt Monika Jagfeld, Leiterin des Museums im Lagerhaus, in einem Interview über die Ausstellung, die noch bis Ende Februar 2023 zu sehen ist. „Die Kunst kann aufmerksam machen und dem Elefanten im Raum, der uns Angst macht und über den wir nicht reden wollen, einen Platz geben.“
Lene Marie Fossen erkrankte zu Beginn ihrer Pubertät. Sie wollte die Veränderung ihres Körpers stoppen und stellte darum mit zehn Jahren das Essen ein. Auch mit ihren Fotografien habe sie „die Zeit einfrieren wollen“, so ein Zitat der Künstlerin, die 1986 geboren wurde und 2019 an und mit ihrer Krankheit starb. Dennoch wollte sie nie als „Kranke“ gesehen werden: „Ich bin in erster Linie Künstlerin und dann bin ich krank“, hat sie über sich gesagt. Dennoch entschied sie sich, ihren eigenen Körper zu zeigen – und auf den Gegensatz zwischen Selbst- und Fremdsicht hinzuweisen: „Ich bin nicht das, was Sie sehen, sondern das, was ich sehe“ – dieser Satz steht auch über der Ausstellung.
Das Lagerhaus St. Gallen ist das erste Museum außerhalb Norwegens, das Fossens Werke zeigt. Museumsleiterin Jagfeld, die die Fotos aus Norwegen holte, berichtet, es sei schwer, die Ausstellung an anderen Orten zu finden. Ein Grund könne sein, dass die Selbstportraits noch unmittelbarer wirkten als etwa Kriegsfotografien: „Es ist immer sie selbst. Sie kann sich nie ausweichen, es gibt kein anderes Projekt.“
Im Lagerhaus werden Fossens Fotografien durch eine zweite Ausstellung ergänzt und gespiegelt: „KörperBilder“ zeigt Werke aus dem Bestand des Museums, es geht um Weiblichkeit, Erotik und Fruchtbarkeit. Darunter sind Arbeiten von Aloïse Corbaz, Madeleine Lommel und Hans Schärer sowie Neuzugänge einer fragilen Ich-Identität von Lotti Fellner-Wyler (1924 – 2018), Tochter Otto Wylers, und von Margrit Schlumpf-Portmann (1931 – 2017), die eine eigene Technik der „Schnurmalerei“ in großen Formaten entwickelt hat. Esther Geißlinger
Weitere Informationen rund um die Doppel-Ausstellung gibt es auf der Homepage des Museums, https://www.museumimlagerhaus.ch/. Die Ausstellung dauert noch bis zum 26. Februar 2023.