Hunderttausende in Ketten

Gusti Mura, 46, lebt in Bali. Seine Familie brachte ihn zu 103 verschiedenen Wunderheilern, und als das keine Wirkung zeitigte, wurde der jahrelang in einen Raum gesperrt. © 2019 Andrea Star Reese for Human Rights Watch

Hunderttausende Menschen mit psychischen Erkrankungen werden weltweit angekettet. Darauf weist die Organisation Human Rights Watch* in einem aktuellen Bericht hin. Männer, Frauen und Kinder würden in etwa 60 Ländern in Asien, Afrika, Europa, dem Nahen Osten sowie in Nord-, Mittel- und Südamerika wochen-, monate- und sogar jahrelang angebunden oder in engen Räumen eingesperrt. Laut dem 56-seitigen Papier „Living in Chains: Shackling of People with Psychosocial Disabilities Worldwide“ würden Menschen mit psychischen Erkrankungen oft durch ihre eigenen Familien zu Hause oder in überfüllten Einrichtungen unter unhygienischen Bedingungen und meist gegen ihren Willen angekettet.

Gründe hierfür seien eine weit verbreitete Stigmatisierung von psychisch erkrankten Menschen sowie eine fehlende psychiatrische Gesundheitsversorgung. Viele Patienten würden gezwungen, auf engstem Raum zu essen, zu schlafen und auch dort ihre Notdurft zu verrichten. In staatlichen oder privat betriebenen Einrichtungen ebenso wie in traditionellen oder religiösen Heilzentren würden psychisch kranke Menschen häufig zum Fasten sowie zur Einnahme von Medikamenten oder Kräuterpräparaten gezwungen. Des Weiteren seien  sie physischer und sexualisierter Gewalt ausgesetzt. 

Der Bericht umfasst Daten aus Untersuchungen vor Ort sowie Interviews aus Afghanistan, Burkina Faso, Kambodscha, China, Ghana, Indonesien, Kenia, Liberia, Mexiko, Mosambik, Nigeria, Sierra Leone, Palästina, der sich einseitig als unabhängig erklärten Republik Somaliland, dem Süd-Sudan und dem Jemen.

„Das Anketten von Menschen mit psychischen Erkrankungen ist eine weit verbreitete, brutale Praxis, die in vielen Gemeinschaften ein offenes Geheimnis ist“, so Kriti Sharma, Expertin für die Rechte von Menschen mit Behinderungen bei Human Rights Watch und Autorin des Berichts. „Menschen verbringen Jahre festgekettet an einem Baum, in Käfigen oder Ziegenställen, einfach weil ihre Familien nicht wissen, was sie sonst mit ihnen machen sollen. Und die Regierung bietet ihnen keine vernünftige menschenwürdige Alternative.“

 Situation in 110 Ländern untersucht

Um diese Situation zu ändern hat Human Rights Watch  gemeinsam mit Menschen, die sich für die Rechte psychisch Erkrankter einsetzen sowie mit Menschenrechts- und Anti-Folter-Organisationen auf der ganzen Welt die globale Kampagne #BreakTheChains ins Leben gerufen. Human Rights Watch sprach mit mehr als 350 Menschen mit psychosozialen Behinderungen sowie mit 430 Familienmitgliedern, Angestellten von Einrichtungen, Fachleuten auf dem Gebiet psychischer Erkrankungen, Wunderheilern, Regierungsbeamten und Aktivisten. Bei der Untersuchung der Situation in 110 Ländern fand Human Rights Watch Belege dafür, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen in etwa 60 Ländern angekettet werden, und zwar unabhängig von deren Alter, ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit, sozioökonomischer Schicht und davon, ob sie auf dem Land oder in Städten leben.

Gefesselte Männer mit psychischen Problemen und Drogenkonsumenten in einem islamischen Rehabilitationscenter in Kano City/Nigeria.
Foto: Robin Hammond for Human Rights Watch.

Weltweit leiden nach Angaben der Organisation geschätzt 792 Millionen Menschen an psychischen Erkrankungen. Dennoch würden Regierungen weniger als zwei Prozent ihres Gesundheitsbudgets für die psychiatrische Gesundheitsfürsorge ausgeben.  In Ländern, in denen solche Dienste kostenlos sind oder subventioniert werden, stellten lange Anfahrtswege oder Reisekosten oft ein erhebliches Hindernis dar. Angesichts  eines Mangels an angemessenen psychiatrischen Unterstützungsleistungen hätten  viele Familien das Gefühl, dass ihnen keine Alternative zum Anketten ihrer Angehörigen bleibt. Häufig stehe dahinter die Befürchtung, die Person könnte davonlaufen oder sich selbst bzw. andere verletzen.

Die Praxis des Ankettens komme für gewöhnlich in Familien vor, die psychische Erkrankungen auf böse Geister oder Sünden zurückführen. Daher seien traditionelle Heiler oder Wunderheiler die erste Anlaufstelle; auf psychiatrische Einrichtungen greifen die Familien nur im Notfall zu. Ein Fallbeispiel: „Mura, ein 56-jähriger Mann im indonesischen Bali, wurde zu 103 verschiedenen Wunderheilern gebracht, und als das keine Wirkung zeitigte, jahrelang in einen Raum gesperrt.“

Angekettete leiden unter posttraumatischem Stress, Infektionen, Nervenschäden, Muskelatrophie …


Das Anketten beeinträchtige sowohl die geistige als auch die körperliche Gesundheit. „Angekettete Menschen leiden unter posttraumatischem Stress, Unterernährung, Infektionskrankheiten, Nervenschäden, Muskelatrophie und Herz-Kreislauf-Problemen. Angekettet können die Betroffene sich auch nicht bewegen, da die Ketten sie häufig am Laufen oder Aufstehen hindern. Manche werden sogar an eine andere Person gekettet, was bedeutet, dass sie ihre Notdurft gemeinsam verrichten und nebeneinander schlafen müssen“, so Human Rights watch.
 

Ohne Zugang zu sanitären Einrichtungen, Seife oder medizinischer Grundversorgung seien angekettete Menschen auch einem größeren Risiko ausgesetzt, an Covid-19 zu erkranken. Und in Ländern, in denen die Covid-19-Pandemie den Zugang zu psychiatrischen Einrichtungen behindert, könnten Menschen mit psychischen Erkrankungen zunehmend Gefahr laufen, angekettet zu werden.  Human Rights Watch empfiehlt Regierungen als Sofortmaßnahme, die Bedingungen in staatlichen und privat betriebenen Einrichtungen zu erfassen und regelmäβig zu überprüfen. Zudem sollten Maßnahmen ergriffen werden, wenn es in Einrichtungen zu Missbrauch kommt. 

* Human Rights Watch (HRW) ist eine US-amerikanische, international tätige nichtstaatliche Organisation, die durch Untersuchungen und Öffentlichkeitsarbeit für die Wahrung der Menschenrechte eintritt. Sie hat ihren Sitz in New York City und finanziert sich ausschließlich durch Spenden von Privatpersonen und Stiftungen.