Ein bundesweit einmalige Projekt fördert messbar die Gesundheit in sozial benachteiligten Hamburger Stadtteilen. Das überzeugte: Der Hamburger Gesundheitskiosk in den sozialen Brennpunkten Billstedt und Horn wird nun Teil der Regelversorgung durch die Krankenkassen. Das zuständige Gremium beim Gemeinsamen Bundesausschuss habe eine Überführung aus der Projektphase empfohlen, teilte die AOK mit. Ziel des Gesundheitskiosks an mittlerweile drei Standorten ist es, die medizinische und soziale Versorgung in den armen Stadtteilen nachhaltig zu verbessern, die Einrichtungen untereinander besser zu vernetzen und die Zugänge zu sozialen Einrichtungen zu erleichtern. EPPENDORFER-Mitarbeiter Michael Göttsche besuchte das Projekt im Herbst vorigen Jahres, sein unten stehender Text erschien in der EPPENDORFER-Printausgabe 6/21.
Links ein Handyshop. Rechts ein Gemüsemarkt. Gegenüber das Einkaufszentrum. Und mittendrin ein Kiosk der besonderen Art: der Gesundheitskiosk in der Fußgängerzone. Billstedt ist einer der ärmsten Stadtteile Hamburgs. Jeder Zweite hat einen Migrationshintergrund. Die Arbeitslosenrate ist hoch, chronische Krankheiten sind weit verbreitet, zugleich ist das medizinische Versorgungsangebot weit geringer als in anderen Teilen der Hanse-
stadt. Vor diesem Hintergrund wurde 2017 der Gesundheitskiosk an der Möllner Landstraße 18 vom Ärztenetzwerk Billstedt-Horn gegründet. Die Idee: der Kiosk als Anlaufstelle, die kostenfrei und ohne Voranmeldung zur Beratung durch ein Team von acht medizinisch ausgebildeten Fachkräften in verschiedenen Sprachen aufgesucht werden kann.
„Wir wollen die niedrigschwellige ambulante Versorgung vor Ort qualitativ stärken, und zwar mit einem pflegerischen Ansatz“, sagt Alexander Fischer. Er ist Geschäftsführer der Trägergesellschaft „Gesundheit in Billstedt/Horn UG“. Das große Echo bestätigt diesen Ansatz: Bisher haben über 5000 Menschen den Kiosk aufgesucht, um Rat und Hilfe in gesundheitlichen Fragen zu bekommen.
Von Prävention und Ernährung bis zu Weiterleitung an Pflegeberatung
Die thematische Bandbreite reicht von Prävention und Ernährung, der Nachbereitung von Arztgesprächen und der Erarbeitung von Versorgungsplänen bis zur Weiterleitung an Hilfseinrichtungen wie Pflege- oder Erziehungsberatung. „Rund 60 Prozent der Ratsuchenden kommen über ihren Arzt, 20 Prozent über soziale Einrichtungen – auch über Schulen – und 20 Prozent suchen den Kiosk aus eigener Initiative auf“, so Alexander Fischer. Ebenso breitgefächert ist die Liste der Gesundheitsprobleme der Ratsuchenden. „Hier spiegeln sich sämtliche Volkskrankheiten wie Diabetes, koronare Herzkrankheit, Asthma oder Übergewicht wider.“
Unter den psychiatrischen Krankheitsbildern stehen Depressionen an erster Stelle. „Psychiatrische Erkrankungen bilden bei uns zwar keinen Schwerpunkt“, so Alexander Fischer, aber der mittlerweile emeritierte Psychiatrie-Professor Thomas Bock (Uni-Hamburg) habe die Gesundheitsberatenden auf diesem Gebiet geschult.
Neben dem Gesundheitskiosk Billstedt gibt es mittlerweile zwei weitere Einrichtungen dieser Art im benachbarten Horn und in der Großsiedlung Mümmelmannsberg. Die fünf Krankenkassen AOK, DAK, Barmer, Techniker und Mobil finanzieren das Projekt. Damit, so Alexander Fischer, können rund 85 Prozent der Bevölkerung dieses Angebot kostenlos wahrnehmen.
Innovationsfonds des G-BA schob das Projekt an
Für die ersten drei Jahre hatte der Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) das Projekt mit insgesamt 6,3 Millionen Euro finanziert, seitdem stellen besondere Versorgungsverträge die Finanzierung sicher. Um eine langfristige Finanzierung sicherzustellen, werden derzeit entsprechende Gespräche mit allen Beteiligten geführt.
Noch ist der Gesundheitskiosk bundesweit einmalig – wahrscheinlich nicht mehr lange: „Ein Gesundheitskiosk könnte in jeder Stadt, in jedem Stadtteil die Versorgung deutlich verbessern“, sagt Alexander Fischer. „Wir beraten die Stadt Essen beim Aufbau von zwei Kiosken“, berichtet er weiter. „Essen beteiligt sich an der dortigen Trägergesellschaft mit jährlich 500.000 Euro.“ Im Gegensatz zu Hamburg: Hier hält sich die Stadt zurück. Das, so Alexander Fischer, würden die Krankenkassen natürlich gerne ändern.
Vorbilder in Finnland und Kanada / Studie belegt Versorgungsverbesserung
Das Kiosk-Prinzip orientiert sich an Vorbildern, beispielsweise in Finnland und Kanada. Die Billstedter Erfahrungen weisen das Modell als Erfolg aus: Der Hamburger Gesundheitskiosk habe mit seinem niedrigschwelligen Angebot die medizinische Versorgung nachweislich verbessert und sollte auf andere Regionen ausgeweitet werden – so das Ergebnis einer Studie des Hamburg Center für Health Economics (HCHE) der Universität Hamburg. Dieser Studie zufolge konnten vermeidbare Krankenhauseinweisungen verringert und das Verständnis für Krankheiten verbessert werden. Im Vergleich zu anderen Hamburger Stadtteilen werde die ambulante Versorgung jährlich knapp doppelt so häufig wahrgenommen. Zugleich sei die Quote vermeidbarer Krankenhauseinweisungen um knapp 19 Prozent gesunken: Die Menschen, so das HCHE-Ergebnis, gehen mehr in die ambulante Praxis vor Ort und weniger in die Krankenhäuser. „Nicht nur die Nutzerinnen und Nutzer sind mit den Angeboten des Gesundheitskiosks sehr zufrieden, auch die am Projekt teilnehmenden Ärztinnen und Ärzte berichten von einer Arbeitserleichterung und einer Verbesserung der Versorgung“, so ein weiteres Ergebnis der Studie. Michael Göttsche