HAMBURG. Zum zehnten Kongress des Bundesverbandes Psychoanalytische Paar- und Familientherapie strömten Anfang Juni rund 160 Interessierte aus dem gesamten deutschsprachigen Raum nach Hamburg. Unter dem Titel „Paare als Eltern – Eltern als Paare“ hatte das Katholische Kinderkrankenhaus Wilhelmstift gemeinsam mit dem Institut für psychoanalytische Paar- und Familientherapie Göttingen-Hamburg-Heidelberg ins Rudolf-Steiner-Haus eingeladen. Zu den Teilnehmern gehörten vor allem Sozialpädagogen und Psychotherapeuten für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, aber auch Lehrer und Juristen. Die Vorträge und Workshops behandelten Themen wie Ödipalität, Eltern-Säuglings-Psychotherapie, den Übergang zur Elternschaft, Treue und Untreue sowie Lust und Unlust. Zu den Referenten gehörte auch Chefarzt Dr. Joachim Walter vom KKH Wilhelmstift. Mit dem EPPENDORFER sprach der Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie über die besondere Situation von Geflüchteten.
„Wenn die Kinder über ihre Eltern sprechen, dann zeigt sich häufig, dass diese im Exil unter Einsamkeit leiden“, so Walter. Die Probleme seien jedoch vielfältig, und auch die verschiedenen Mitglieder einzelner Familien hätten ganz unterschiedliche Probleme zu bewältigen. „Zum Glück finden sie wiederum verschiedene Wege, mit der Situation umzugehen.“ Geschwister etwa nähmen häufig ganz unterschiedliche Rollen an – etwa die des Pfadfinders, des Beobachters oder des Versorgers. Hier seien Familiengespräche sehr hilfreich, in denen die gleiche Geschichte aus verschiedenen Blickwinkeln nicht selten ganz unterschiedlich erzählt werde. Es helfe den Geschwistern, sich über ihre verschiedenen Rollen bewusst zu werden und diese gemeinsam zu besprechen.
„Eltern belastet häufig die Passivität im Exil, ihre Sprach- und Hilflosigkeit“, so Walter. Ihr Stolz darauf, Einfluss auf die Kinder zu haben, gehe verloren. Dabei sei es ein Grundbedürfnis für Eltern, die Zukunft ihrer Kinder zu gestalten. Den Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen, sei häufig sogar der Beweggrund für die Flucht. „Elternsein ist sehr anstrengend, wenn man nichts zurückbekommt“, so Walter. Doch das Gefühl, belohnt zu werden, sei im Exil bedroht. Eltern sollten daher unterstützt werden – nicht zuletzt, um einer drohenden Verwahrlosung der Kinder vorzubeugen.
Für Paare könne auch die ganz andere Kultur im Exil ein Problem sein, neue Machtverhältnisse, aber auch Notsituationen im Heimatland oder während der Flucht. Auswirkungen seien vor allem Depressionen und Posttraumatische Belastungsstörungen, aber auch Süchte oder Aggressivität. Manche hätten etwa zu kämpfen mit den Folgen erlittener Folter, die typischerweise unlösbare Konflikte und Verrat mit sich bringe. Familien seien häufig Ziele in Gesellschaften, wo Bedrohungen, Kidnapping oder Folter – zum Teil vor den Augen der Kinder – zum Alltag gehören. „Elternschaft ist dort ein Risikofaktor“, so Dr. Walter.
Belastend könne auch der Umstand sein, dass ein Vater aufgrund der Konflikte im Heimatland selbst als Soldat zum Täter geworden ist oder im Gefängnis saß. Manche Frauen wiederum seien auf der Flucht vergewaltigt worden – zum Teil ebenfalls vor den Augen ihrer Kinder. Eine solche Traumatisierung führe häufig zu dem Verlust, Zärtlichkeiten genießen zu können. Das Ziel der Traumatherapie sei es in solchen Fällen, den Frauen klarzumachen, dass das traumatisierende Ereignis vorbei ist.
Manche Frauen erlebten im Exil den Wegfall ihres sozialen Gerüsts: „In Afrika etwa gibt es Frauengruppen, die zum Teil sehr mächtig sind“, so Walter. Im Exil fehle den Frauen dann diese Macht. Umgekehrt komme es durch Trennung oder Tod des Partners nicht selten auch dazu, dass Frauen eine größere Verantwortung übernehmen – und diese eventuell später auch wieder abgeben müssen. Im Exil sei häufig auch die wesentlich freizügigere Kultur ein Problem. Fremdgehen und Eifersucht belasteten viele Paare.
Bei erlittenen Extremsituationen könne es zu Schweigepakten innerhalb der Familie kommen. Diese hätten jedoch zwei Seiten: Ihr Zweck sei es, etwas oder jemanden zu schützen. Andererseits führe das Verdrängen zu schlechten Träumen oder dazu, dass es dem Betroffenen plötzlich schlecht geht, sobald er sich entspannt. „Und das bemerken auch die Kinder“, so Walter. Doch die Fähigkeit, zu sprechen, könne reifen. Es sei wichtig, sorgsam mit dem Schweigen umzugehen und mit Hilfe einer Therapie die richtige Zeit und das richtige Maß zum Sprechen zu finden.
Der Druck auf die geflüchteten Kinder könne sehr groß werden. Ihre Eltern erwarteten etwa, dass sie der Familie helfen, sie in der Bewältigung ihres Leidens unterstützen oder auch schlicht ihr Leben lebenswert machen. „Manche werden zum Überlebenssymbol“, so Walter. Sie seien der Beweis dafür, dass es dem Herkunftsland nicht gelungen ist, das Fortbestehen der Familie zu zerstören. „Allerdings wollen Kinder auch nicht nur spielen“, so Walter. „Kinder möchten ihren Eltern helfen, es macht sie stolz und fördert ihre Identität.“ Durch manche Aufgaben seien sie jedoch überlastet – etwa wenn es darum geht, schwierige Erlebnisberichte zu übersetzen.
Häufig seien die Kinder auch widersprüchlichen Anforderungen seitens der Eltern ausgesetzt: So sollen sie im Exil einerseits erfolgreich sein, andererseits jedoch nicht zur Gesellschaft dazugehören, damit sich die Eltern nicht von ihnen verlassen fühlen.
Auch hier sei schon viel gewonnen, wenn sich die Kinder diese „Eltern-Aufträge“ bewusst machen und darüber sprechen. Hilfreich sei es zudem, Spiele oder Kreationen der Kinder zu interpretieren. Das sei gleichzeitig gut für die Eltern, die dadurch erfahren, wie sehr sich das Kind mit ihrem Schicksal auseinander setzt und helfen möchte. Und dies ermögliche wiederum den Eltern, stolz auf ihr Kind zu sein.
Generell sei der Austausch sowohl zwischen den Familienmitgliedern als auch den Ethnien sehr wichtig für eine gelungene Integration. In Gesellschaften wie unserer sei es jedoch schwierig zu sagen: „So ticken wir.“ Denn die Deutschen etwa tickten wegen unserer großen Freiheiten sehr unterschiedlich. Für Flüchtlinge, die aus einer Verbotsstruktur kommen, sei es schwer zu erfassen, was normal ist und wie man sich verhalten soll. Als Gesellschaft sollten wir den Flüchtlingen Zeit geben, ihre Wunden zu lecken, und sie nicht allein auf die Flucht reduzieren. Wichtig sind für Walter eine Kultur der Offenheit und der Neugierde sowie Kontakt zu Partnerfamilien – etwa über Kirchengemeinden, Gewerkschaften oder Studentenverbände.
Gesa Lampe