Seit mehr als zehn Jahren reist der in Hamburg niedergelassene Psychotherapeut Burkhard Hofmann mehrmals im Jahr an den persischen Golf, wo er arabische Patienten behandelt. Entlang von zehn Fallgeschichten, von denen jede einem bestimmten Aspekt der arabischen Seelenkultur gewidmet ist, hat er seine Erfahrungen zu Papier gebracht und ein beeindruckendes Buch vorgelegt.
Prolog
Szene 1: Die kleine Louise war damals, Mitte der fünfziger Jahre, ungefähr sechs Jahre alt, als in ihr eines Abends ein Zweifel aufkeimte, ob es den „lieben Gott“, mit dem sie eigentlich als einer ebenso selbstverständlichen wie unhinterfragten Instanz lebte, ob es diesen lieben Gott wirklich gäbe. Der liebe Gott war umgeben von unzähligen Heiligen, zuständig für die diver-sen Alltagsprobleme – so wurde z.B. der heilige Antonius angerufen, wenn man irgendetwas suchte („Heiliger Antonius, Schutzpatron der Schlampen, wo ist mein ..?“), der Sankt Blasius war dafür zuständig, einen vor Halsschmerzen zu bewahren, und der heilige St. Fit z.B. stellte sicher, dass man nicht verschlief. Louise befragte ihre Mutter, was genau sie tun müsse, um vom Sankt Fit zu der von ihr gewünschten Zeit geweckt zu werden.
„Ein „Vaterunser“, sagte die Mutter, dann drei „Gegrüßet seist du, Maria“ und dann das Gebet: Heiliger Sankt Fit, weck mich um die rechte Zit, nit zu früh, nit zu spät, wenn die Uhr um … schlägt.“ Um den Zufall auszuschließen, betete Louise zum St. Fit und bat ihn, sie um VIER Uhr des Nachts zu wecken, eine Zeit, in der sie NIEMALS von selbst wach wurde. Tatsächlich wurde sie um vier Uhr mit dem Kirchturmglockenschlag wach, und da ihrem kindlichen Geist Begriffe wie Suggestion und Manipulation unbekannt waren, verharrte sie lange Jahre im unerschütterlichen Glauben an den lieben Gott und die Macht der ihn umgebenden Heiligen. Der Zweifel war besiegt. Aber sie hatte ihn haben dürfen.
Szene 2: Eine Therapiesitzung: Abdullah, ein arabischer Patient, besteht anlässlich einer Auseinandersetzung zum Thema Homosexualität darauf, dass schwule Menschen ihre Homosexualität frei wählen würden und sich deshalb versündigen. Der Therapeut hält dagegen, dass ihm nicht ein einziger schwuler Patient bekannt sei, der seine Homosexualität frei gewählt habe. Auch als der Therapeut argumentiert, er, Abdullah, habe sich auch nicht für seine Heterosexualität entschieden, beharrt dieser weiterhin darauf, dass die Wahrheit und Gültigkeit der Heiligen Schriften und des Korans unumstößlich und somit nicht bezweifelbar sei.
Der Therapeut: „Vor uns stand wie so oft ein gefülltes Glas Wasser. Ich fragte ihn, ob er sehen könnte, dass dieses voll sei. Er bejahte. Wenn jetzt im Koran stünde, dass es leer sei, was denn dann für ihn gelten würde? Ohne zu zögern antwortete er, natürlich der Koran. An dieser Stelle gab ich mich geschlagen…“ (Und Gott schuf die Angst – S. 135).
„Psychogramm der arabischen Seele”
Der Leser von Hofmanns Fallgeschichten, aus denen die zweite Szene entnommen ist, gewinnt schnell einen inneren Zugang zum „Psychogramm der arabischen Seele“, wie der Untertitel des Buches – etwas hochgestochen, aber gleichwohl angemessen – lautet. Dies gelingt dem Autor dadurch, dass er nicht nur „Geschichten“ aufschreibt, sondern diese auch theoretisch und analytisch auf überzeugende Weise unterfüttert. Man merkt, dass Hofmann sich nicht nur mit den „einzelnen Seelen“ seiner Patienten befasst hat, sondern ebenso umfassend wie gründlich auch mit der arabisch-islamischen Kultur und Religion.
Ihm ist das Kunststück gelungen, sich auf das östlich-arabisch-islamische Denken und Fühlen einzulassen und doch gleichzeitig seine eigene (westliche) Position zu wahren. Sich einzulassen und doch fremd zu bleiben – das ist die große Herausforderung, wenn wir fremden Kulturen und damit auch fremden Seelen begegnen und diese in ihrem Denken und Fühlen verstehen wollen.
Ebenso überzeugt der Autor auch durch das Beschreiben und „Eingestehen“ eigener Fremdheits, -Empörungs- und Ohnmachtsgefühle, die er immer wieder in den Therapiesitzungen mit seinen Patienten durchlebt. Die sich hierin zeigende Elastizität und Haltung des eben nicht alles Wissenden erscheint dem Leser wie ein befreiendes Gegenmodell zur Strenge und Rigidität der beschriebenen (islamischen) Glaubensüberzeugungen.
Wie ein roter Faden durchläuft ein Leitsymptom die Fallgeschichten bzw. die dort in ihrer Befindlichkeit und ihrem Leiden beschriebenen Patienten: die Angst, unter der, so Hofmann, alle Patienten leiden. Diese Angst mag sich unterschiedliche Wege bahnen und als Depression, als Zwang, als Sucht oder gar als Psychose in Erscheinung treten. Doch wie erklärt sich dies? Diese Angst gründe, so Hofmann (und an dieser Stelle sei erwähnt, dass der Autor keineswegs einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit seiner Aussagen und Hypothesen erhebt), in den Regeln und Gesetzen der arabischen Kultur und islamischen Religion: So bedeute in unserer westlichen Kultur z.B. Erwachsenwerden die Überwindung der Abhängigkeit von den Eltern und damit den Gewinn von Freiheit und Autonomie, um schließlich – in der späteren Gestaltung von erwachsenen (Paar)beziehungen – das Mittelfeld zwischen Autonomie und Abhängigkeit ausloten und bespielen zu können.
Absolutes Loslösungsverbot von der Familie
„Ist die Welt im Westen gleichsam zweipolig, fehlt im Osten der Pol der Unabhängigkeit; das Erleben bleibt monopolar und wie in Kreisen um den Zentralpunkt der Familie angeordnet. Jede Entfernung von diesem Zentralpunkt in ein wirklich Eigenes ist von starken kulturellen und emotionalen Spannungen geprägt, die sich im Kardinalsymptom der Angst zeigen.“ So gibt es ein absolutes Loslösungsverbot von der Familie. Ihr gegenüber muss – im Zweifelsfall durch viele Verletzungen und schwere Traumata hindurch – strikte Treue und Loyalität gewahrt werden.
Die Familie wiederum ist eingebettet in das islamische Glaubenssystem, das ebenfalls als unumstößlich und nicht bezweifelbar gilt. Zweifeln – und das heißt ja nichts anderes als eigenes individuelles Denken – ist nicht erwünscht, denn es könnte eine Distanzierung vom für alle gültigen und verpflichtenden Glauben zur Folge haben.
Kein Platz für Individualität
Findet man sich in inneren Konflikten oder Entscheidungssituationen, so hilft das Istichara-Ritual: Man betet zu Allah, um von ihm ein Zeichen zu empfangen oder man schlägt eine beliebige Seite im Koran auf, blättert sieben Seiten weiter und findet dann in den ersten sechs Zeilen die Lösung… Der Lohn für diese Unterwerfung, in der es keinen Platz für Individualität gibt, ist die absolute Sicherheit und Geborgenheit.
Eine Antwort auf die Frage, warum die kleine Louise, die in einem durchaus strengen katholischen Elternhaus aufwuchs, einen Zweifel haben durfte, ein solcher aber Abdullah – bis in die Verleugnung der eigenen Sinneswahrnehmung hinein – verwehrt war, hat die Schreiberin dieser Zeilen bisher nicht gefunden. Martina de Ridder
Der Autor:
Burkhard Hofmann, Jahrgang 1954, arbeitet seit 1991 als Facharzt für Psychotherapeutische Medizin in eigener Praxis in Hamburg. Über private Beziehungen kam er in Kontakt mit der arabischen Welt, was zu einem größeren Anteil muslimischer Patienten führte. Inzwischen hat er in zehn Jahren gut 60 Patienten aus dieser Region behandelt. Dafür fliegt er mehrfach im Jahr nach Bahrein. In seinem Buch berichtet er über viele Einzelaspekte, die die Entwicklung seiner überwiegend aus gut situierten Familien stammenden Patienten prägen. So wie das „Nanny-Syndrom“ – die emotionale Abwesenheit der Eltern, die er als Hintergrund für Bindungslosigkeit, einen enormen Konsum von Psychopharmaka und Betäubungmittelmissbrauch sieht. Auch die schwerwiegenden Folgen der Polygamie für Frauen und Kinder macht Hofmann deutlich. Erstfrauen würden infolge dieser Kränkung häufig psychiatrisch und medikamentenpflichtig erkranken.
*Burkhard Hofmann: „Und Gott schuf die Angst. Ein Psychogramm der arabischen Seele“, Droemer-Verlag, 286 S., 19,99 Euro.