Vergisst man etwas, ärgert man sich meist. Dabei gibt es ohne Vergessen kein Erinnern. Das Historische Museum Frankfurt macht mit einer großen Ausstellung auf die Bedeutung des Vergessens aufmerksam und eröffnet überraschende Horizonte.
„Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist.” Sprichwörter aus mehreren Sprachen empfangen den Besucher der Sonderausstellung „Vergessen – Warum wir nicht alles erinnern” des Historischen Museums Frankfurt am Main. Was es nämlich bedeutet, nicht vergessen zu können, erzählt dort in einem Film die US-Amerikanerin Jill Price. Sie erinnert jeden Tag ihres Lebens, seit sie 1969 drei Jahre alt wurde. „Ich denke an einen Streit mit meiner Mutter”, erzählt sie. „Es war vor 15 Jahren – für mich ist es wie gestern. Ich fühle mich schlecht und schuldig und würde meine Mutter am liebsten umarmen. Aber sie hat keine Ahnung mehr, warum.”
Price sammelt ihre Erinnerungen in einem Tagebuch und als Gegenstände. Eine Puppe, Shorts, Fotos, ein T-Shirt sind in der Ausstellung zu sehen. Museumsdirektor Jan Gerchow weist auf die positive Funktion des Vergessens hin: „Das Vergessen ist der Bruder des Erinnerns. Ohne Vergessen gibt es kein Erinnern, keine neuen Gedanken und Zukunft.” Das Museum zeigt vom 7. März bis 14. Juli anhand von rund 400 Exponaten, Film-, Hörstationen und Kunstwerken vielfältige Aspekte des Vergessens. Dazu dienen Erkenntnisse aus Sozialwissenschaft, Kulturgeschichte, Neurowissenschaft, Psychoanalyse und Kunst.
Das Vergessen kann medizinische Gründe haben. So zeigt eine türhohe Zettelsammlung, wie ein Mann mit Beginn seiner Demenz möglichst viel Wissen festhalten wollte. Auf einen Zettel hat er etwa die Namen der vier Mitglieder der Beatles aufgeschrieben und welche Instrumente sie spielten. 1,7 Millionen Demenzkranke gebe es in Deutschland, jährlich erkrankten 300.000 Menschen neu. Die Ausstellungsmacher haben in einem Projekt mit dem Bürgerinstitut Frankfurt Demenzkranke einbezogen: Sie ließen sie anhand von Objekten wie einer Milchkanne, einer Eduscho-Kaffeedose oder einem Bonbonautomat Erinnerungen erzählen, deren Aufnahmen zu hören sind.
So wie es das Vergessen und Erinnern individuell gibt, findet es auch kollektiv statt. Eine Haustür, die vollständig mit Aufklebern der neuen sozialen Bewegungen der 1970er und 80er Jahre bepflastert ist, wie mit der lachenden Sonne „Atomkraft nein danke” oder dem Dinosaurier und der Aufschrift „zu viel Panzer, zuwenig Hirn”, demonstriert das Gedächtnis einer bestimmten Generation.
Auch Vergessen geschieht kollektiv. Eine Wand ist mit einer Sammlung von Opernprogrammen der 1930er Jahre bedeckt, aus deren Titel aber immer ein Teil herausgeschnitten ist: das Hakenkreuz. Wie man im Nachkriegsdeutschland nichts mehr von der Verantwortung für den Nationalsozialismus wissen wollte, demonstrieren auch die Hördokumente von Vernehmungen des ersten Frankfurter Auschwitzprozesses (1963-1965). Auch über die Folgen des Luftkriegs wurde in Deutschland jahrzehntelang geschwiegen. Die Schau präsentiert dazu die im September 2017 in Frankfurt geborgene Fliegerbombe – zwei Meter lang, ein Meter hoch und in mehrere Teile zersägt, da 1,4 Tonnen Sprengstoff aus ihr entfernt wurden.
Vergessen wollen ist das eine – nicht vergessen können das andere. So ergeht es Menschen, die existenzbedrohende Erfahrungen durchgemacht haben. Der Frankfurter Psychoanalytiker Kurt Grünberg erläutert in einem Interview, wie er „szenisches Erinnern” als Konzept für Holocaust-Überlebende einsetzt. Ein Film schildert, wie Soldaten nach Einsätzen etwa in Afghanistan die Kontrolle über ihr Verhalten verlieren, und wie man versucht, die „posttraumatische Belastungsstörung” zu behandeln.
Die Schau schließt mit Beispielen, wie kollektives Vergessen überwunden werden soll: Der französische Künstler Regis Perray hat gefilmt, wie er vier „Stolpersteine” des Künstlers Gunter Demnig in Erinnerung an Nazi-Opfer wieder und wieder putzt. Ein Modell des geplanten Einheitsdenkmals in Berlin, der Wippe, und eine Tonne mit Mikrofilmen des Bundesamts für Bevölkerungsschutz zum jahrhundertelangen Speichern von Daten beschließen die Ausstellung.
Mehr als 20 Künstler tragen Werke zu den Aspekten des Vergessens bei – vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Sie sind berührend, wie etwa von Christian Baltanski: Er hat ein Regal mit Pappkästen errichtet, auf ihnen sind Reproduktionen von Fotografien. Es sind Kindergesichter, die von Suchplakaten des Deutschen Roten Kreuzes von 1946/47 stammen. Kinder, die vergessen und verloren im zerstörten Deutschland umherirrten.
Jens Bayer-Gimm (epd)
Historisches Museum Frankfurt, Saalhof 1 (Römerberg), 60311 Frankfurt a.M.Öffnungszeiten: dienstags bis freitags von 10 bis 18 Uhr, mittwochs von 10 bis 21 Uhr, samstags und sonntags von 11 bis 19 Uhr. Ein Rahmenprogramm einschließlich einer öffentlichen Tagung über „Dynamiken des Erinnerns und Vergessens” am 23. und 24. Mai wird angeboten. s.a. www.historisches-museum-frankfurt.de/vergessen