Die Online-Schule

Die Web-Individualschule wird seit 19 Jahren von Sarah Lichtenberger geleitet. Foto: Web-Individualschule

Psychisch und physisch schwer erkrankte Kinder und Jugendliche haben massive Probleme mit dem Besuch einer Regelschule. In der Folge sitzen Kinder und Jugendliche dauerhaft krankgeschrieben zuhause und bleiben perspektivlos unbeschult. Die Bochumer Web-Individualschule unterrichtet solche Schülerinnen und Schüler, die wegen psychischer oder physischer Erkrankung keine Regelschule besuchen können. Sie gilt bundesweit als einzige Schule dieser Art. Die 2002 gegründete Web-Individualschule mit Sitz in Bochum ist seit 2006 zugelassene Fernschule der Staatlichen Zentralstelle für Fernunterricht (ZFU). Sie wird seit 19 Jahren von Sarah Lichtenberger geleitet.

EPPENDORFER: Wie viele Schülerinnen und Schüler drücken bei Ihnen die digitale Schulbank?


SARAH LICHTENBERGER: Gegenwärtig besuchen rund 350 Kinder und Jugendliche unsere Schule, betreut von 50 Lehrkräften. Die Schülerzahl steigt kontinuierlich: Vor 20 Jahren waren es gerade mal acht Schüler, die von drei Lehrkräften betreut wurden.


Wie läuft der Unterricht ab?


Unsere Lehrkräfte melden sich täglich über den Messangerdienst Skype bei ihnen zu Hause oder gegebenenfalls in Klinik oder Einrichtung. Sie vermitteln, abhängig von der individuellen Diagnose und den jeweiligen Bedingungen, rund 20 bis 30 Minuten lang den Unterrichtsstoff und versorgen die Schülerinnen und Schüler mit notwendigem Material, das sie anschließend ausarbeiten und zurücksenden. Während dieser Videokonferenz sind die Lehrkräfte grundsätzlich auch optisch online, die Schülerinnen und Schüler ihrerseits können die Kamerafunktion an ihrem Gerät ausschalten. Die Beschulung erfolgt in der Regel via Videotelefonie, orientiert sich aber an den technischen Gegebenheiten am Ort des Schülers. Dies bedeutet, dass der Unterricht auch via E-Mail, Chat oder Telefon gewährleistet werden kann. Alle Lehrer sind mit dem erforderlichen, technischen und medialen Zubehör ausgestattet. Den tatsächlichen Gebrauch der technischen Kommunikationsmöglichkeiten bestimmt der Schüler.


Reicht die halbe Stunde Unterricht täglich aus?


Diese Zeit reicht aus, da ein individuell ausgerichteter 1:1-Unterricht mit konsequent persönlichem Kontakt zu einer Bezugsperson eine sehr intensive Form der Wissensvermittlung ist. Für Rückfragen ist die Lehrkraft auch außerhalb dieser Zeit erreichbar. Unser Ziel ist es, die Schülerinnen und Schüler auf ihre Prüfungen vorzubereiten und sie nach Möglichkeit in die Regelschule zu reintegrieren. Denn eigentlich gehört jedes Kind schon wegen der Sozialkontakte in die Regelschule. Auf dem Weg dorthin sollen die Schülerinnen und Schüler wichtige Schlüsselqualifikationen erwerben, vor allem aber Spaß am Lernen haben und so ihre eigenen Talente, Potenziale und Fähigkeiten entdecken. Sie sollen ihre Perspektiven und Chancen erkennen und nutzen.

Bieten Sie auch gemeinschaftliche Aktivitäten an?


Der eigentliche Unterricht läuft immer im individuellen 1:1-Setting ab – ausgenommen ist die Vorbereitung auf das Abitur, hier haben wir ein 2:1-Verhältnis. Aber außerhalb des Unterrichts haben wir Arbeitsgemeinschaften eingerichtet, an denen die Schülerinnen und Schüler in virtuellen Räumen per Zoom freiwillig teilnehmen und einander auch kennenlernen können. Hierzu zählen beispielsweise eine Kochgruppe, ein Spanisch- und ein Schachkurs.


Handelt es sich bei den Lehrkräften um Lehrer im engeren Sinn?


Wir beschäftigen in unserem Team neben Fachlehrern beispielsweise auch Sozialpädagogen, Heilpädagogen, Psychologen. Bei unserem Fernunterricht kommt es gleichermaßen auf Herz, Hirn und psychologisches Fingerspitzengefühl an. Oft kommt es nicht auf die rein sachliche Vermittlung des Stoffs an, sondern mehr noch auf Empathie und den angemessenen Umgang mit den unterschiedlichen Krankheitsbildern.


Welche gesundheitlichen Einschränkungen machen Ihren Schülerinnen und Schülern den Besuch einer Regelschule unmöglich?


Bei knapp 40 Prozent sind starke Störungen im Autismusspektrum diagnostiziert, gefolgt von affektiven Störungen und körperlichen Erkrankungen. Sehr besorgniserregend ist die steigend Zahl von Mobbingopfern und Kindern und Jugendlichen, die an CFS, dem Chronischen Fatigue Syndrom leiden.


Gibt es an der Web-Individualschule auch so etwas wie Schulferien?

Weil er Unterrichtsstoff individuell gestaltet wird, sind festgelegten Ferienzeit genau wie verbindlichen Stundenpläne nicht möglich. Unser Team arbeitet durch, wir beschränken uns auf 30 Tage Jahresurlaub.


Können die Lehrkräfte aus dem Homeoffice heraus unterrichten?


Nein, wir arbeiten präsent aus unserem Schulgebäude heraus. Die Präsenz ermöglicht allen Beteiligten, sich auf kurzem Wege untereinander auszutauschen. Das ist angesichts der oftmals sehr komplex-bedrückenden persönlichen Verhältnisse unabdingbar – auch im Sinne der gebotenen Psychohygiene, wenn man täglich mit schwerkranken Kindern und Jugendlichen umgeht. Daher spielt bei uns auch regelmäßige Supervision eine wichtige Rolle. In der Vergangenheit hatten wir zwei Lehrkräfte durch Burnout verloren.

Was sind formalen Voraussetzungen für eine individuelle Web-Beschulung?


Psychiatrisch muss ein Ruhen der Schulpflicht nach Paragraf 35a des Sozialgesetzbuchs VIII festgestellt werden. Die Beantragung der Kostenübernahme durch das Jugendamt im Rahmen der Eingliederungshilfe oder bei körperlichen Erkrankungen durch das Sozialamt kann für die Eltern ein mühseliger bürokratischer Prozess sein.


Welche Abschlüsse sind möglich?


Bei uns können Förder-, Haupt- und Realschulabschluss absolviert werden, seit diesem Jahr bieten wir auch das Abitur an. Die erworbenen Schulabschlüsse sind bundesweit anerkannt und haben die gleiche Wertigkeit wie ein Regelschulabschluss.


Schulpolitik ist hierzulande Ländersache. Wo werden die externen Abschlussprüfungen abgehalten?


Unser Schulunterricht muss sich an den 16 verschiedenen deutschen Lehrplänen und den 16 unterschiedlichen Prüfungsordnungen orientieren – das hat für uns einen immensen organisatorischen Aufwand zur Folge, nötig gemacht durch eine uns nicht verständliche Entscheidung des nordrhein-westfälischen Bildungsministeriums von 2022. Bis dahin hatten wir Lehrplan und Abschlussprüfung an Nordrhein-Westfalen ausgerichtet: Die Schülerinnen und Schüler waren jeweils zur Externenprüfung nach NRW angereist. Der zuständigen Bezirksregierung Arnsberg war – nach 20 Jahren – plötzlich der Aufwand zu hoch. Daher wurde zum Wohnortprinzip zurückgekehrt, wonach Abschlussprüfungen im jeweiligen Heimatbundesland abgelegt werden.


Wissen Sie, was später aus Ihren Schülerinnen und Schülern geworden ist?


Unsere Absolventinnen und Absolventen haben den Einstieg in unterschiedlichsten Berufsfeldern geschafft. Berühmte web-Schulabsolventen beispielsweise sind die Zwillinge Bill und Tom Kaulitz von der Band Tokio Hotel.


Michael Göttsche (Originalveröffentlichung im EPPENDORFER 2/25)