Die Muskel-Sucht

Drücken, pumpen, ziehen, reißen, stemmen - Hauptsache Muskeln ... Foto: pixabay

Viele junge Männer wollen möglichst schnell möglichst große Muskeln haben. Sie trainieren tagaus, tagein, bis sie ihren Körper für ideal halten. Aber das passiert selten, denn Aufhören macht alles wieder zunichte.

Andreas hat einen durchtrainierten Körper. Seine Schultern sind breit, seine Oberarme prall gefüllt mit Muskelmasse. Bi- und Trizeps sind massig und im Höchstmaß definiert. “Ich bin stolz auf meinen Körper”, sagt der 32-Jährige. Während er von sich erzählt, arbeitet er an den Geräten in einem Regensburger Fitnessstudio. Er drückt, pumpt und zieht an den Gewichten. “Ich gehe dabei absolut ans Limit, das tut schon auch weh”, sagt er. Andreas trainiert zwei Stunden täglich, damit er so aussieht, wie er aussieht – männlich, stark, athletisch.

Unter vielen jungen Männern grassiert eine Angst vor dem Schmächtigsein. Eine schlaksige Silhouette, schmale Schultern, Spargelbeine, das war einmal die Standardfigur für Jungs ab 15 Jahren. So einer wird heute auf Schulhöfen “Lauch” genannt. “In den vergangenen Jahren hat sich das Körperidealbild junger Männer komplett geändert”, sagt der Münchner Psychologe Christian Strobel. “Es reicht quasi nicht mehr, wenn jemand nur Sport macht und ein bisschen muskulös ist, sondern da muss man jetzt richtig den großen Bizeps sehen, da muss richtig viel Muskelmasse dran sein. Das geht schon fast ins Unförmige”, sagt Strobel, der für die Münchner Caritas-Beratung arbeitet. 

Strobel ist Projektleiter einer Ambulanz für Essstörungen und Muskelsucht. Er habe Männer gesehen, erzählt er, die kein Gramm Fett mehr an sich hatten. Objektiv hätten diese Menschen gesund ausgesehen, “aber sie leiden natürlich, können nichts zu sich nehmen, was ein bisschen Fett aufbauen würde”. Da sei das halbe Kilogramm Magerquark am Abend normal, “schmeckt zwar scheußlich, aber sie meinten, das ist richtig gut”.

Was bei Mädchen die Magersucht ist, äußert sich bei jungen Männern immer häufiger als Muskelsucht oder Muskeldysmorphie. “Es beschreibt ein Verhalten mit dem Zwang, Sport machen zu müssen, bei gleichzeitiger auf den Sport ausgerichteten Diät und mit dem Wunsch, muskulöser zu sein, aber nicht schlanker”, sagt Strobel. Laut einer US-Studie finden normale junge Männer solche Körper am attraktivsten, die durchschnittlich 14 Kilogramm mehr Muskelmasse haben als ihr eigener.

Seit zehn Jahren bearbeitet Andreas nun schon seinen Body, “am Anfang noch nicht so intensiv, aber es ist dann immer intensiver geworden”. Um ein “Maximum an Ästhetik” zu erreichen, wie Andreas es nennt, muss das Verhältnis von Fettgewebe und Muskelmasse stimmen. Deshalb esse er strategisch – viel Eiweiß, wenig Kohlenhydrate. Etwa 4.000 Kilokalorien nehme er täglich zu sich, um bei dem vielen Training nicht an Gewicht und Muskeln abzubauen. Dazu gehöre auch die Einnahme von Kreatin, das nicht nur mehr Leistung aus den Muskeln hole, “sondern sie auch optisch voller aussehen lässt”. Die Einnahme anaboler Steroide komme für ihn nicht infrage, sagt er, obwohl auch davor einige nicht zurückschrecken. 

Woher kommt der Druck, der Fokus auf den Body, der Trend zum hypermuskulösen Mann? Zum einen setzt die Werbung Männermodels ein, deren durchschnittliche Muskulatur über die Jahre massiv zugenommen hat. Zum anderen zeigen beliebte Fitness-Influencer in sozialen Netzwerken, wann und wie man richtig trainiert, welche Ernährung den Sixpack zum Vorschein bringt und welche Fehler ihre Follower besser nicht nachmachen sollten. Dazu posten sie Fotos von jungen, durchtrainierten Körpern. Mit dem Fitnesskult lässt sich viel Geld verdienen.

Psychologe Strobel geht sogar davon aus, dass das Körperbild schon in der Kindheit geprägt wird. “Wenn man sich heute die Spielzeug-Actionfiguren von Kindern anschaut, die sind mittlerweile so muskulös, die können gar nicht mehr richtig laufen, wie zum Beispiel der ‘G.?I.?Joe’. Das ist so das Schönheitsideal, das derzeit propagiert wird.” 

Andreas ist keine Ausnahmeerscheinung, das wird beim Blick ins Fitnessstudio deutlich. Seine Kumpels sind ebenso gut trainiert und muskulös-athletisch. Dennoch halten sie Andreas für einen coolen Typen, “weil er die Kontrolle über seinen Body hat, das verdient Anerkennung”, sagt Lukas (27).

In Zeiten von Fitnesskult und Optimierungswahn gilt das Kreisen um das Körpererscheinungsbild als sozial akzeptiert. Therapiebedarf melden bislang die wenigsten an. “Es ist ein heimlicher, stiller Leidensdruck”, sagt Strobel. “Denn es ist natürlich eine wahnsinnige Anstrengung, es kommt zu Überlastungsbrüchen, Erschöpfungszuständen, zu völliger Ausgebranntheit bis hin zu sozialem Rückzug.” 

Strobel schildert den Fall eines 16-Jährigen, der auf Anraten seiner Mutter in die Beratung kam. Er selbst habe nicht den Wunsch gehabt, etwas zu ändern. Es gehe ihm gut, habe der Junge gesagt. “Erst nach mehrfacher Nachfrage gestand er, dass er gerne wieder mehr Zeit für sich hätte.”

Die schweren Fälle, in denen der Sport zum Zwang geworden ist, landen inzwischen in den Therapie-Praxen. Strobel bietet regelmäßig Fortbildungen für Therapeuten an. In einem dieser Vorträge sitzt auch ein Elternpaar aus Ingolstadt. Es schildert, dass sich die Gedanken ihres 22-jährigen Sohnes nur noch um seinen Körper drehten, seit er als Jugendlicher im Fußballclub wegen seiner Körpergröße von 1,66 gehänselt wurde. 

Damals habe er mit dem intensiven Training begonnen und könne nicht mehr aufhören, erzählt die Mutter. Er sei deshalb zwar in Behandlung, aber nur ambulant. Längere Zeit in eine Klinik zu gehen, das traue er sich nicht, “weil er sonst seinen Trainingsplan nicht einhalten kann”. Der Mutter steht die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben: “Es muss jetzt endlich Schluss sein damit.”  Gabriele Ingenthron (epd)