Die Macht der Kränkung

Über die gewalttätigen Auswüchse von Kränkungen kann er ein Lied singen, soll der auf Sucht spezialisierte österreichische Psychiater und Psychotherapeut Prof. Reinhard Haller doch über 8000 forensische Gutachten verfasst und mit hunderten Mördern gesprochen haben. 2015 schließlich erschien sein Buch mit dem Titel „Die Macht der Kränkung“, über die er auch bei der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Bipolare Störungen (DGBS) im Jahr 2018 in Hamburg referierte.

Kränkung wirke oft auslösend, etwa für eine depressive Entwicklung, und könne bis zum Suizid reichen – und lebensbegleitend wirken, so Haller. Beispiel: Bei einem erfolgreichen Familienvater und Hausbesitzer aus dem mittleren Management reichte es, dass die Firma ihm als einzigem und ohne Erklärung den Bonus von 500 Euro versagte, um einen Prozess voller Grübeleien, Selbstzweifel und Schlaflosigkeit auszulösen, an dessen Ende eine Sucht und Suizidpläne standen. Bei einem „Bombenleger“ – „genial, aber auch genial kränkbar“ – war es nicht erwiderte Liebe, die zu schwersten Rachephantasien führte und aus ihm einen der größten Verbrecher und nicht einen der größten Wissenschaftler gemacht habe. Haller bemühte das Bild aus der Chaosforschung, wonach der Flügelschlag eines Falters in Amazonien Wochen später einen Wirbelsturm in Texas auslösen könne: „Das ist Kränkung“, so Haller. 

Waffenkundigkeit und Gekränktheit Muster bei Amokläufern

Eine Typisierung von Amokläufern habe Waffenkundigkeit und Gekränktheit als Muster ergeben. So könnten scheinbare Banalitäten schlimmste Auswirkungen haben. Beispiel: eine Jahre zurückliegende Klassenfahrt, bei der keiner mit dem späteren Täter ins Doppelzimmer wollte, was das Gefühl ausgelöst habe, nicht gemocht zu werden.

„Bei vielen Problemen in Partnerschaften spielen fast immer Kränkungen eine entscheidende Rolle“, so Haller weiter. Ebenso am Arbeitsplatz. „Was ist Mobbing anderes als systematisches Kränken?“ fragte der österreichische Referent im Rahmen seines „Festvortrags” bei der Jahrestagung der DGBS.

Auch bei Internetmobbing und Terrorismus sei durchgängig Kränkung ein Motiv: so bei dem islamistisch motivierten Terroranschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift „Charly Hebdo“ (als kränkend empfundene Karikierung des Propheten im Vorwege). Ein zentrales Motiv für Terrorismus heute sei auch der Gedanke: „Denen geht es gut und mich lassen sie nicht rein.“ Auch die Geschichte ist für Haller eine Geschichte der Kränkungen: Adolf Hitler etwa sei schwer gekränkt gewesen, weil er als Straßenmaler verspottet worden sei und im Arbeiterwohnheim habe leben müssen. 

„Anhaltende Erschütterung des Selbst und seiner Werte”

Der hohen Relevanz zum Trotz ist  Kränkung aber in der Medizin kaum Thema, sei ihm in sechs Jahren Facharztausbildung nicht begegnet. Haller selbst definierte Kränkung so: „Anhaltende Erschütterung des Selbst und seiner Werte.“ Und nannte zwei Faustregeln: „Wenn mich jemand kränkt, sitzt es um so tiefer, je wichtiger der Mensch für mich ist.“ Und: Je größer der wahre Kern der Kränkung, desto schwerer wiege sie. „Und je tiefer ich beleidigt bin, desto mehr Wahrheit steckt drin.“ Als weitere Varianten von Kränkung nannte er:  Querulantentum (16 Prozent der Arbeit der Justiz gehe zurück auf Eingaben von Querulanten), Verbitterungsstörung, Ehrenmorde, Blutrache in Italien. 

Aktuell nähmen Kränkungen zu, so Haller, wofür er zwei Erklärungen habe: Die menschliche Sehnsucht nach Anerkennung und Wertschätzung komme zu kurz, während die Hochsensibilität zunehme und Menschen infolge von Multitasking und Druck nervöser und sensibler würden. Die erhöhte Kränkbarkeit werde auch weiter zunehmen, glaubt Haller, die Kränkbarkeit im Zuge von mehr Narzissmus auch im Zusammenhang mit der digitalen Wende sei allgemein unterschätzt worden (wer jetzt an Donald Trump denkt …). 

Was ist zu tun? Lufthoheit gewinnen, Kränkung zur Sprache bringen, riet Haller. Man könne Kränkungen auch als Mittel der Selbstkenntnis sehen. Da sie einen wahren Kern tragen, seien sie gut, um die eigenen wunden Punkte herauszufinden, aber auch, um das Gegenüber besser zu verstehen. Letztlich sei der konstruktive Umgang mit Kränkung eine „Schule der Empathie“, „indem ich mich in mich und die Kränkungsgrenzen des anderen einfühle.“ Schließlich werde Empathie, gab er den verstorbenen britischen Physiker Stephen Hawking wieder, entscheidend für das Überleben der Menschheit sein, alles andere könnten Maschinen besser. Anke Hinrichs

(Originalveröffentlichung in der EPPENDORFER-Printausgabe 6/2018)