Demokratie
und Psychiatrie

Warben für Demokratie: Prof. Mazda Adli ( v.li.), Dr. Nargess Eskandari-Grünberg, Ahmad Mansour, Dr. Kirsten Kappert-Gonther, Gerhard Baum und Prof. Eva-Lotte Brakemeier. Foto: Hinrichs

„Wie Psychiatrie und Psychotherapie zur Demokratieförderung beitragen“ lautete das Thema eines von Prof. Mazda Adli und Prof. Eva-Lotte Brakemeier geleiteten Diskussionsforums, das im Rahmen des jüngsten DGPPN*-Kongresses in Berlin stattfand. Unter den TeilnehmerInnen an erster Stelle zu nennen: das aktuell wohl älteste deutsche „Polit-Role-Model” Gerhard Baum. Neben dem ehemaligen FDP-Innenminister auf dem Podium: der israelisch-deutsche Psychologe und Autor arabisch-palästinensischer Herkunft Ahmad Mansour, die Grünen-Gesundheitspolitikerin und Psychiaterin Dr. Kirsten Kappert-Gonther sowie die Psychotherapeutin Dr. Nargess Eskandari-Grünberg. Auch sie ging für die Grünen in die Politik und fungiert aktuell als Bürgermeisterin in Frankfurt am Main.

„Die Annahme, Medizin hat mit Politik nichts zu tun, ist ein Mythos. Das Gegenteil ist der Fall, weil wir es mit Menschen in ihren schwächsten Momenten zu tun haben“, eröffnete Mazda Adli das Podium. Und die Zusammenhänge, um die es geht, sind ja auch im Grunde psychischer Natur, wenn die Weltlage und sogenannte Polykrise Menschen unter Stress setzen und diese daher „eher emotional als rational reagieren”, sich abschotten, Tunnelblicke entwickeln, erhöhte Manipulierbarkeit zeigen, die Akteure ausnutzen. Wenn sich eine „angstgepeinigte Gesellschaft“ Erleichterung in einer polarisierten Gesellschaft verspreche. Feindbilder inklusive. „Dagegen müssen wir aktiv was machen!“, forderte Adli auf. „Wir Psychiater wissen genau um den Zusammenhang“: „Über Emotionen sind wir manipulierbar und gefundenes Fressen für Populisten.“

„Eine Belastungsprobe, wie ich sie noch nicht erlebt habe“

Wie könnte nun ein Schulterschluss von Politik und Psychiatrie aussehen? Einen einfachen Königsweg kann es nicht geben in diesen Zeiten. Die Demokratie sei einer „Belastungsprobe“ ausgesetzt, „wie ich sie noch nicht erlebt habe“, so der als „Stimme der Demokratie“ angekündigte Baum, der eine nachlassende Bindungswirkung unseres Grundgesetzes beklagte. Das Problem sei, dass viele Menschen gleichgültig seien. „Wir müssen die Menschen erreichen!“ Er habe den Eindruck, dass politische Entscheider „nicht wissen, was Menschen fühlen“, eben Ängste angesichts von Krieg und Krisen. „Die Welt ist aus den Fugen!“ so Baum.

„Radikale bieten sehr einfache Antworten auf sehr komplexe Themen”


Ahmad Mansour weiß wie es ist, wenn man Islamisten auf den Leim geht. Er wuchs als Sohn arabischer Israelis auf und geriet einst „selbst in die Fänge eines islamistischen Heilsversprechers“, wie er sagt. Heute arbeitet er, gemeinsam mit seiner Frau, mit seiner Initiative mind-prevention mit Projekten für Extremismusprävention und Demokratieförderung.
Radikale böten sehr einfache Antworten auf sehr komplexe Themen, machte er deutlich. Er selbst sei als Jugendlicher in einer kritischen Situation gewesen, als es ihn zu Extremisten zog. In der Schule gemobbt, habe er in der Umgebung keinen Anschluss gefunden. „Es ging darum, Teil von etwas zu sein, eine Identität zu bekommen, zur Elite zu gehören, besser als andere zu sein.“ Ein Zugang zu solchen Kreisen habe immer mit persönlicher Krise zu tun, wie zum Beispiel mit einer fehlenden Vaterfigur, zerstörten Familienstrukturen oder dem Gefühl, nicht dazuzugehören.

„Zugang hängt immer mit persönlichen Krisen zusammen”


Das Studium in Tel Aviv brachte die Wende. Obwohl er nur 100 Meter von ihnen entfernt aufwuchs, habe er als Kind keinen Austausch mit Juden gehabt. An der Uni dann tagtäglich. „Alltägliche Begegnung ist die beste Therapie gegen Vorurteile.“ Auch die Aufforderung seiner Professoren, eine Meinung, Haltung zu äußern, brachte ihn vom patriarchalischen, wenig kritischen Denken der Herkunftsfamilie ab. Bücher, Freud etc. hätten ihn neugierig gemacht und verunsichert. „Verunsicherung ist die beste Heilung gegen Radikalisierung“, so Mansour, „das war meine Befreiung“. Was gegen Radikalisierung helfe sei eine Konzentration aufs Individuum und diesem das Gefühl zu geben, gesehen zu werden, reflektieren zu helfen. Nicht helfe theologisches streiten: Da könne man nur verlieren, warnte er.

Bekanntheit auch durch einen Dokumentarfilm der Tochter


Schwenk zu Dr. Nargess Eskandari-Grünberg: Bekanntheit erlangte sie auch durch einen Dokumentarfilm ihrer Tochter. Die Schauspielerin und Regisseurin Maryam Zaree versuchte in der 2020 mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichneten Dokumentation „Born in Evin“ (noch bis 10. Januar 2024 in der ZDF Mediathek) Licht in die gewaltvollen Umstände ihrer Geburt 1983 in dem berüchtigten Evin-Gefängnis in Teheran zu bringen. Nachdem 1979 die iranische Monarchie gestürzt worden war, ließ Ayatollah Khomeini Zehntausende politische Gegner verhaften und ermorden. Die Eltern der Filmemacherin konnten nach Jahren im Gefängnis nach Deutschland fliehen. Innerhalb der Familie konnte nie über die Verfolgung und das Gefängnis gesprochen werden. „Es gibt keinen Tag, wo ich nicht dankbar bin für das Geschenk, in einer Demokratie zu leben“, machte Dr. Nargess Eskandari-Grünberg deutlich. Im Gefängnis gestärkt habe sie die Solidarität der Mitgefangenen unter „unmenschlichsten Situationen”.

„Seelische Gesundheit ist elementar für unsere Demokratie”

Dr. Kirsten Kappert-Gonther erzählte von der großen Bedeutung, die ein Bankkonto für eine frühere Patientin gehabt habe und warb für eine Erhöhung von Teilhabechancen, einen Zusammenschluss aller demokratischen Kräfte und bessere Versorgung: „Seelische Gesundheit ist elementar für unsere Demokratie. Ein gesellschaftliches System, das Patienten frühzeitig erreicht und und in Krisen auffängt, ist der beste Nährboden für Sicherheit und gesellschaftlichen Zusammenhalt“, sagte sie.
Was tun? Was könnte die Botschaft sein? Ahmad Mansour wies darauf hin, dass soziale Medien die Wahrnehmung verändern. „Der Zug ist abgefahren“, meinte er. Zentral seien die Stärkung von Empathiebildung bei Kindern, harte Diskussionen zur Sache in demokratischem Rahmen und digitale Sozialarbeit. An die Therapeuten appellierte er, politische Themen, Hass, Radikalisierung in Therapien nicht auszublenden – was vielen Kollegen, die sich über Abstinenz definieren, schwer falle, gab Adli zu bedenken.
„Wir müssen unsere Demokratie mit Zähnen und Klauen verteidigen, Menschen erreichen, die sich verführen lassen“, warb ein kämpferischer Baum. „Wir müssen wenigstens unser Haus in Ordnung halten. Wir haben die Kraft, damit fertig zu werden!“ Anke Hinrichs (Originalveröffentlichung im EPPENDORFER 1/24)

*Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde