Acht bis zehn Prozent der Deutschen nehmen Antidepressiva. Die meisten PatientInnen könnten diese nach etwa einem Jahr wieder absetzen. Doch mehr als jede dritte Person nimmt Antidepressiva Studien zufolge länger ein als notwendig. Ein „Missstand” sei das, meint Yvonne Nestoriuc, Professorin für Klinische Psychologie an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg. Grund hierfür sei unter anderem eine negative Erwartungshaltung, der sogenannte Nocebo-Effekt. Damit mehr Patienten ihre Medikamente absetzen können, fordert sie bessere Aufklärung und das gezielte Wecken positiver Erwartungen, um den „unheilvollen Kreislauf beim Absetzen von Antidepressiva zu durchbrechen“, so die Projektleiterin das Sonderforschungsbereichs (SFB) 289 „Treatment Expectation“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), bei dem in 16 Teilprojekten untersucht wird, wie Erwartungen den Behandlungserfolg beeinflussen. Es müsse in den Behandlungsleitlinien festgelegt werden, dass verschreibende ÄrztInnen über die Absetzproblematik aufklären.
„Viele PatientInnen sind beim Absetzversuch von rasch vorübergehenden Absetzeffekten wie Schlaflosigkeit, Schwindel oder Reizbarkeit betroffen und missverstehen diese als Rückfall. Die daraus entstehende Angst verstärkt die Beschwerden noch, weshalb die PatientInnen den Absetzversuch oftmals abbrechen, statt durchzuhalten“, erklärt Ulrike Bingel, Professorin für Klinische Neurowissenschaften an der Universitätsmedizin Essen und Sprecherin des Sonderforschungsbereichs.
Wenn allein die Erwartung zu körperlichen Veränderungen führt
Dessen Projektleiterin Prof. Yvonne Nestoriuc plädiert vor diesem Hintergrund für unterstützende psychotherapeutische Elemente, die helfen, Erwartungen beim Antidepressiva-Absetzen zu optimieren und dem Nocebo-Effekt vorzubeugen. Beim Nocebo-Effekt (Lat. „Ich werde schaden“) sorge allein die Erwartung negativer Folgen dafür, dass Prozesse im zentralen Nervensystem angestoßen werden, die zu körperlichen Veränderungen führen.
Neben einer Reduktion der Belastung für die PatientInnen, könne sich eine bessere Unterstützung auch positiv auf das Gesundheitssystem auswirken: Bei Jahresgesamtkosten für Antidepressiva von 640 Millionen Euro könne man durch eine bessere Unterstützung der PatientInnen 190 bis 250 Millionen Euro jährlich sparen, so ihre Einschätzung.
Nur in seltenen Fällen ist „lebenslang” sinnvoll
Antidepressiva seien nur in seltenen Fällen als lebenslange Therapie sinnvoll, da sie zu Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme, sexuellen Problemen und einem erhöhten Risiko für Herzrhythmusstörungen führen können. Als medizinische Empfehlung gilt laut Nestoriuc: „Verbessern sich nach etwa vier Wochen, in denen Antidepressiva ihre volle Wirksamkeit entfalten, die depressiven Symptome, sollte das Medikament noch vier bis neun weitere Monate eingenommen werden, bei mehrfach depressiven Episoden weitere zwei Jahre. Herrscht dann immer noch weitgehende Symptomfreiheit, sollte ein Absetzversuch erfolgen.“
Dabei könnten dann „vorübergehende Beschwerden wie Schwindel, Schlaflosigkeit, Schwäche, Reizbarkeit, Übelkeit und Schmerzen” auftreten – sie glichen den Symptomen einer Depression, was bei PatientInnen die Angst vor einem Rückfall auslösen und zu einem Abbruch des Absetzversuchs führen könne. Um zwischen Rückfall und Absetzproblematik zu unterscheiden, sei eine intensive ärztliche Begleitung notwendig, die auch den Nocebo-Effekt berücksichtigt. (rd)
PatientInnen aus dem Großraum Hamburg sowie Marburg, die ihr Antidepressivum mit ärztlicher und psychologischer Begleitung absetzen möchten, können an der aktuellen PHEA-Studie (PHEA steht für „Psychologische und Pharmakologische Effekte beim Absetzen von Antidepressiva“) teilnehmen, die am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und an der Philipps-Universität Marburg durchgeführt wird. Informationen unter www.phea-studie.de