Tragisch, komisch – und zutiefst berührend: In seinem Roman „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“ erzählt der SchauspielerJoachim Meyerhoff, wie es war, in der „Anstalt“ aufzuwachsen, als Sohn des ehemaligen Direktors der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Schleswig. Ein literarischer Rückblick auf das Leben in der früheren „Verwahrpsychiatrie“, die dem Autor und Bewohnern nicht der Schrecken war, den man ihr heute beimisst, sondern vor allem auch Heimat. Über 1500 Patienten lebten im Landeskrankenhaus für Kinder- und Jugendpsychiatrie, als der Vater Direktor wurde: psychisch kranke, geistig und körperlich behinderte Menschen, darunter auch viele Ältere, die hier als Kleinkinder aufwuchsen und blieben.
Das Gelände war groß, das Leben dort eine Welt für sich. Mit großen Festen, Gärtnerei, Gro.küche, Tischlerei und Schlosserei. Mit riesigen düsteren Backsteinbauten, in denen bis zu 20 Patienten in einem Zimmer schliefen. In Hochbetten, deren obere Etage man käfigartig verriegeln konnte, damit die Patienten nicht herausfielen. Mittendrin die Direktorenvilla. Mit einem Vater, der zu Haus am liebsten in seinem Lesesessel verschwindet und keine glückliche Ehe führt. Ein Direktor, der am Geburtstag keine Freunde, sondern seine Lieblingspatienten einlädt. Und der am Ende qualvoll leidet und stirbt. Es ist nicht der einzige Tod, auch der Bruder stirbt und der geliebte Hund.
Leben mit den „Dödies” und „Hirnies”
„Alle Toten fliegen hoch“ hieß zunächst der Theaterzyklus, in dem der 1967 geborene Meyerhoff seine Kindheit und Jugend verarbeitete und der im Burgtheater für volles Haus sorgte. Der erste Teil des Zyklus erschien 2011 unter dem Titel „Amerika“ als Roman. Darin schildert Meyerhoff sein Jahr als Austauschschüler in den USA – und den Tod eines seiner Brüder bei einem Verkehrsunfall. Der neue Roman trägt den Untertitel „Alle Toten fliegen hoch –Teil 2“. Und neben dem Familienleben beschreibt der Autor darin v.a. auch das Leben mit den „Dödies“, „Spackos“, „Hirnies“ und wie er und seine zwei Brüder die Insassen sonst noch so nannten damals, als es normal war, so über die Kranken bzw. Behinderten zu reden; die, die sich frei auf dem Anstaltsgelände bewegen dürfen. Die mit ihren Eigenartigkeiten zum Alltag gehören, Freunde werden, mit denen Meyerhoff spielt, die ihn von zu Hause abholen. Er beschreibt sie auf unbeschreiblich poetische Weise und ohne sich über sie lustig zu machen – was wohl so nur gelingen kann, wenn man zurückschlüpft in die Perspektive und den Blick eines Siebenjährigen.
Verlust einer Welt, „an deren Verschwinden nichts Trauriges war”
Besonders eindrücklich: Die Geschichte vom Glöckner. Ein wilder finsterer Riese, der seine Bahnen zieht und nichts mehr liebt als Glocken, mit deren bimmeln er sich ankündigt. Der dem kleinen Jungen größte Angst einflößt. Bis die Angst eines Tages schwindet und ihn der Glöckner packt und auf seine Schultern wuchtet. Fortan darf der Junge täglich auf dem angsterregenden Mann reiten, den der Vater als einen der gutherzigsten Patienten beschreibt. Ganz am Ende, als er den Hesterberg nochmal besucht, überkommt Meyerhoff – wissend um die Unhaltbarkeit der früheren Zustände und dass er „den Verlust einer Welt betrauert, an deren Verschwinden nichts Trauriges war“ – Sehnsucht. „Ich sehnte mich nach der ungefilterten Freude, den zu langen Umarmungen, dem tobenden Zorn. Ich sehnte mich nach der Maßlosigkeit, dem Spektakel, der mir selbstverständlichen Normalität dieses Wahnsinnsorts. Ich sehnte mich nach der – wie soll ich es nur nennen –, ja, der Deutlichkeit dieser Menschen.“ Ein großartiges Buch. Empfehlung: Sofort kaufen und lesen. Anke Hinrichs (Originalveröffentlichung: EPPENDORFER 4/2013)
Joachim Meyerhoff: „Wann wird es endlich
wieder so, wie es nie war: Alle Toten fliegen
hoch, Teil 2“, Verlag Kiepenheuer &
Witsch, Köln: 2013, 352 S., 19,99 Euro