Im Jahr 2018 haben sich in Deutschland nach Angaben des Nationalen Suizidpräventionsprogramms 9.396 Menschen selbst getötet, 7.111 Männer und 2.285 Frauen. Das Suizidrisiko steige bei Frauen und Männern mit dem Lebensalter, teilte der Sprecher des Präventionsprogramms, Reinhard Lindner, aus Anlass des Welttages der Suizidprävention mit. Das durchschnittliche Lebensalter eines durch Suizid Verstorbenen liege bei 57 Jahren.
In Deutschland sterben somit ungefähr genauso viele Menschen durch Suizid wie durch Verkehrsunfälle, Aids, illegale Drogen und Gewalttaten zusammen, wie Lindner sagte, der an der Universität Kassel Professor für Theorie, Empirie und Methoden der Sozialen Therapie ist. Die Anzahl der Suizidversuche könne auf mindestens 100.000 im Jahr geschätzt werden. Zahlen für 2019 liegen noch nicht vor.
Ob und wie sich die Corona-Pandemie auf die Suizidrate auswirke, lasse sich derzeit nicht sagen, ergänzte Barbara Schneider, die zusammen mit Lindner das Nationale Suizidpräventionsprogramm leitet. Es sei aber offensichtlich, dass die Versorgungslage für Menschen in seelischen Krisen durch die Pandemie beeinträchtigt sei. Die Belastung der Bevölkerung nehme insgesamt unter den Bedingungen von Corona zu.
Lindner warnte zudem vor einer weitgehenden Freigabe des assistierten Suizides. Dies hätte gravierende Auswirkungen auf eine wirksame Suizidprävention. “In Würde zu sterben, bedeutet für die Suizidprävention, dass kein Mensch in eine Lebenslage geraten oder gebracht werden darf, in der der Suizid ihm als einzige Option erscheint”, erklärte er. Das Bundesverfassungsgericht hatte im Februar den Paragrafen 217 Strafgesetzbuch zur geschäftsmäßigen Förderung der Sterbehilfe für verfassungswidrig und damit nichtig erklärt. “Durch dieses Urteil besteht die Gefahr, dass die Gesellschaft die Hand loslässt, die uns entgegengestreckt wird”, warnte Lindner.
Das Nationale Suizidpräventionsprogramm ist ein Netzwerk aus mehr als 90 Institutionen, Organisationen und Verbänden. Videobotschaften zum Thema können hier gestreamt werden: https://www.suizidpraevention.de/medienportal/videobotschaft-zum-welttag-der-suzidpraevention/
“Gespräch über Suizid darf kein Tabu sein” – Drei Fragen an Reinhard Lindner, Leiter des Nationalen Suizidpräventionsprogrammes
epd: Warum ist die Suizidrate bei Männern mehr als dreimal so hoch wie die bei Frauen?
Reinhard Linder: Das ist ein Phänomen, das die gesamte westliche Welt betrifft. Dahinter stehen Konzepte von Männlichkeit, die in unserer Kultur eine tragende Rolle spielen. Ein Aspekt ist sicher der Stolz einer nicht geringen Anzahl von Männern, bei Problemen ohne Hilfe allein klarzukommen. Diese Männer haben zudem große Probleme mit Abhängigkeit, also damit, andere Menschen zu brauchen. Schließlich können sie Wut und Ärger nicht so gut kontrollieren, haben keine gute Impulskontrolle.
epd: Ein Phänomen der vergangenen Jahre sind sogenannte “Selbstmordattentäter”. Sind religiöse Menschen eher dazu geneigt, Suizid zu begehen?
Lindner: Nein. Hier handelt es sich um ein eigenes Thema, das die Prävention nicht betrifft. Ob man Selbstmordattentate als Suizid oder als Massenmord mit Inkaufnahme des eigenen Todes einschätzt, hängt ganz vom jeweiligen Fall ab. So gibt es die Situation, dass junge Menschen in bestimmten ökonomischen und gesellschaftlichen Situationen in eine solche Lage gebracht werden. Ihre Tat gilt für die Familie dann als heroisch. Grundsätzlich aber hat Religiosität verschiedene Einflüsse auf Suizidalität. So schützt sie zum einen Menschen vor Suizid, die etwa davon überzeugt sind, dass sie von einer höheren Instanz getragen werden oder auch, dass der Suizid eine Sünde ist. Auch der soziale und kommunikative Aspekt von Religion hat eine wichtige Schutzfunktion. Andererseits aber kann ein rigides, strafendes und einengendes Bild von Gott auch zum Gegenteil führen.
epd: Was kann die Gesellschaft tun, um die Suizidrate zu senken?
Lindner: Zum einen vor allem darüber reden! Das Thema darf in der Gesellschaft nicht ausgegrenzt werden, man muss darüber sprechen statt zu schweigen. Zum anderen braucht die Suizidprävention mehr gesellschaftliche und auch finanzielle Förderung. Und schließlich ist es wichtig, darüber aufzuklären, dass es wirksame Hilfe bei Suizidalität gibt.
epd-Gespräch: Christian Prüfer