Mangelhafte Psychiatrie
– Was bringt RECOVER?

Eingangsbereich der UKE Psychiatrie in Hamburg-Eppendorf. Foto: Archiv

„Die psychiatrische Behandlung funktioniert in Deutschland nicht gut“, leitete Prof. Jürgen Gallinat, Ärztlicher Direktor der Universitätspsychiatrie Hamburg-Eppendorf, in der Asklepios Klinik Nord seinen Vortrag über das neuartige Behandlungsmodell RECOVER  ein. Sie verursache hohe Kosten (circa 120 Milliarden Euro pro Jahr direkte und indirekte Kosten, v.a. auch Arbeitsunfähigkeitskosten) und es gebe einen erstaunlichen kontinuierlichen Anstieg an psychiatrischen Krankenhausbetten. Mit einer sektoren- übergreifend-koordinierten, schweregrad-gestuften und evidenzbasierten Versorgung für Patienten und ihre Angehörigen soll bei RECOVER jeder Patient die für ihn individuell passende Behandlung bekommen. Ob dieses Behandlungsmodell den bisherigen Angeboten überlegen, wird aktuell in einer Studie überprüft. 

Von der ersten Anfrage beim Psychotherapeuten bis zum Beginn der Behandlung vergingen in Deutschland rund 20 Wochen, rechnete Gallinat vor, die Wartezeit auf ein erstes Gespräch betrage 5,7 Wochen. Die Patienten seien mit der „suboptimalen Versorgung“ nicht zufrieden. Die Ein-Jahres-Prävalenz der Betroffenen liege bei 20 Prozent, wobei 12 Prozent eine leichte und sechs Prozent eine mittelgradig-schwere psychische Störung hätten – in beiden Bereichen vor allem ältere Patienten mit Depressionen, Angst, Belastungs-, Anpassungs- und somatoformen Störungen. 95 Prozent aller Patienten seien in der ambulanten Psychotherapie.

Zwei Prozent der Patienten haben aber eine schwere psychische Störung (aus dem schizophrenen Spektrum, Borderline, Bipolare Störung, schwere Depression). Hier gebe es einen hohen Anteil Jugendlicher, und drei bis fünf Prozent der Patienten landeten auch in der ambulanten Psychotherapie. Bei den schweren psychischen Störungen komme es zur Drehtürbehandlung und zu vielen Notfällen (60 Prozent) und Zwangseinweisungen (80 Prozent), es gebe eine hohe Morbidität und Mortalität. Das Problem: „Schwerstkranke Menschen bekommen am wenigsten eine adäquate Therapie“, so Gallinat. Psychose-Betroffene erhielten zu 78,3 Prozent nur Medikamente

Mit dem RECOVER-Therapiemodell geht man am UKE nun neue Wege. Es wurde im Rahmen des Innovationsfonds zum Ausbau der Integrierten Versorgung mit etwa 7 Millionen Euro gefördert und hält zahlreiche Herausforderungen bereit. Kern ist die Einstufung nach Schweregrad. Das heißt, dass sich Art und Umfang der Therapie nach den Faktoren Form der Erkrankung, Schweregrad von Symptomen und dem Ausmaß der Beeinträchtigungen in Alltag, Schule, Ausbildung und Beruf richten. Inhaltlich bedeutet dies alles, dass Hausärzte in die Versorgung integriert werden, eine E-Mental-Health-Plattform die Versorgung durch eDiagnostik und eTherapie unterstützt, ein Team Beratung und Begleitung bei den Themen Ausbildung und Arbeitsintegration anbietet (Supported Employment) und eine kultur- und sprachsensible Versorgung für Flüchtlinge und eine Genesungsbegleitung durch Betroffene und Angehörige (Peerbegleitung) möglich ist. Zudem gibt es eine aufsuchende Krisenintervention.  Mehr lesen Sie in einem ausführlicheren Bericht in der aktuellen Printausgabe EPPENDORFER 4/2019 (Probeexemplar kann unter info@eppendorfer.de angefordert werden).

Bis jetzt nehmen nach Auskunft von Prof. Dr. Anne Karow insgesamt 650 Menschen an RECOVER teil, davon je 50 Prozent im Behandlungsmodell und in der Regelversorgung. Die Teilnehmer verteilen sich auf alle vier Schweregrade, wobei die meisten einen mittleren bis hohen Schweregrad  aufweisen. Derzeit werden noch weitere Teilnehmer in allen Stufen gesucht. Vor allem für Patienten ohne Vorerfahrung mit der Psychiatrie halte das Behandlungsmodell „interessante Angebote bereit“, so Karow. Voraussetzung ist die Mitgliedschaft in einer der teilnehmenden Krankenkassen: DAK, Barmer, DEK und die AOK Rheinland/Hamburg. Der BKK Verband Nordwest habe seine Teilnahme zugesagt, und es werden mit den jeweiligen Betriebskrankenkassen Verträge geschlossen. Alle teilnehmenden Patienten müssen durch das mobile Team erreichbar sein, dafür wurde ein ungefährer Einzugsbereich von acht Kilometern um das UKE definiert.  Weitere Informationen unter www.recover-hamburg.de  (frg)