Sie war 15, als sich hinter ihr Tore zur Außenwelt schlossen: Heidemarie Puls war von nun an Insassin des Jugendwerkhofes Torgau – für das Mädchen begann eine Zeit des Grauens. Torgau zählte den schlimmsten der über 30 Jugendwerkhöfe der DDR: Jugendliche und Heranwachsende sollten dort zu „vollwertigen Mitgliedern der sozialistischen Gesellschaft“ erzogen werden. Torgau war für viele die Endstation. Wer in anderen Heimen auffiel oder ausriss, kam schließlich hierher – so wie Heidemarie Puls. Sie schildert ihre Erfahrungen in dem Video „Eingeschlossen hinter Mauern“ des Projektes „Gedächtnis der Nation“ der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
Der Film sollte im Rahmen der jüngsten Hamburger Tagung des „Aktionsbündnisses gegen Geschlossene Unterbringung“ ein Schlaglicht auf die Heimerziehung in der DDR werfen. Heidemarie Puls ist als Kind von ihrem Vater missbraucht worden. Mit elf Jahren kam sie in ein DDR-Kinderheim. Es folgten Verlegungen in weitere, immer strengere Heime, bis sie schließlich in den geschlosssenen Jugendwerkhof Torgau kam. „Das Weglaufen war mein Verhängnis gewesen“, erinnert sich Heidemarie Puls an ihre vielen Fluchtversuche. „Mit Umerziehung konnte man bei mir nichts erreichen.“
In Torgau war an Weglaufen nicht zu denken: Dicke Mauern, zwei Personenschleusen, Sicherheitstrakt, Wachhunde, Stacheldraht, Gitter von einer Treppe zur anderen erstickten jeden Fluchtgedanken im Keim. Das Konzept von Torgau war durch körperliche und seelische Grausamkeit geprägt. „Jeder Tag war bis auf die Minute verplant, nichts wurde im Gehen gemacht, mit Ausnahme der Arbeit in den Werkstätten“, berichtet sie. „Alles musste im Laufschritt erledigt werden.“ Schikane auf allen Ebenen: Nach einer Regelblutung musste man um saubere Unterwäsche bitten – die man häufig nicht bekam. Die Folge: Bei der nächsten Hygienekontrolle setzt es Strafen. „Du bist ein Nichts – wir bauen Dich wieder auf“, sei den Jugendlichen klar gemacht worden. „Aber das gelang bei mir nicht.“
Schließlich landete sie im „Fuchsbau“, der härtesten Bestrafung in Torgau: Der fensterlose, von Gitter und Stahltür verschlossene Raum maß 1,30 mal 1,30 Meter. „Es gab auch keine Kübel für die Notdurft“, so Heidemarie Puls. Sie war in den gefürchteten Fuchsbau gekommen, weil sie einem Mädchen zu Hilfe kam, als es von einem Erzieher mit einem Knüppel geschlagen wurden. „Ich habe ihm das Gesicht zerkratzt“, berichte Heidemarie Puls. Sofort seien andere Erzieher zur Stelle gewesen. „Sie haben mich zusammengeschlagen.“ Noch in der Werkstatt hatte Heidemarie Puls sich einen Schraubenzieher in den Arm gerammt, um die Pulsadern zu treffen. Der Suizidversuch scheiterte.
Heidemarie Puls wurde mit 17 aus Torgau entlassen. In ihrem autobiografischen Buch „Schattenkinder hinter Torgauer Mauern“ arbeitet sie später ihre Heim-Vergangenheit auf.
Michael Göttsche