Von Freistatt bis Torgau

Ehemaliges Hephata-Heimkind Thomas Hasper blättert in seiner Heimakte – er ist Zeitzeuge in Sonja Toepfers Film über Pneumenzephalographie an Heimkindern (Siehe Serie Heimkinder III).

„Wenn Du nicht brav bist, kommst Du ins Heim“ lautete der Titel einer Tagung des Aktionsbündnisses gegen Geschlossene Unterbringung in der Patriotischen Gesellschaft Hamburg – eine Zeitreise durch 70 Jahre Heimgeschichte. Im Mittelpunkt des ersten Teils stand die Heimerziehung der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte.

Zur Begrüßung schon mal eine handfeste Drohung: „Wenn du dich fügst, ist alles gut. Wenn nicht, wird es für dich die Hölle auf Erden.“ Der Heimvater zeigte dem neuen Zögling, wo es lang geht. „Für mich sollte es die Hölle auf Erden werden“, erinnert sich Wolfgang Rosenkötter an seine Zeit in Freistatt. Dass die von Bethel betriebene Einrichtung die härteste Fürsorgeanstalt der Bundesrepublik war, bekam sollte der schmächtige, damals 15-Jährige unmittelbar zu spüren bekommen. Brutale Gewalt, Teil-und-herrsche-Hierarchien, chronische Angst, seelische und körperliche Misshandlungen, demütigende Strafen, Arbeit bis zum Umfallen – unter den traumatischen Folgen seiner 17 Freistatt-Monate leidet er wie viele der ehemaligen Zöglinge bis heute. Auch er hat später über das Erlebte geschwiegen, auch im persönlichsten Umfeld. „Ich habe diese Lebensphase vier Jahrzehnte lang verdrängt“, sagt er. Dass er erst spät angefangen, darüber zu reden und offensiv in die Öffentlichkeit zu gehen, verdankt er Peter Wensierski: Der Autor und frühere Spiegel-Redakteur hatte 2006 das Buch „Schläge im Namen des Herrn“ veröffentlicht, in dem er die brutalen Missstände deutscher Heimerziehung aufdeckte (siehe nebenstehenden Beitrag). „Bei einer Lesung kam wieder alles in mir hoch, so dass ich mich erstmals wieder mit meiner Heimvergangenheit beschäftigte“, erinnert sich der heute 73-Jährige.

Wolfgang Rosenkötter ist ein Scheidungskind. Sein Vater bekam schließlich das Sorgerecht, fühlte sich aber bald überfordert und beantragte Freiwillige Erziehungshilfe nach dem Jugendwohlfahrtsgesetz. Die ersten beiden Heimunterbringungen beendete Wolfgang Rosenkötter durch Flucht. Dann wurde er in Freistatt im niedersächsischen Landkreis Diepholz eingewiesen: Die Häuser der Anstalt für rund 400 Jugendliche lagen inmitten eines riesigen Hochmoorgebietes zwischen Weser und Ems, Flucht ist kaum möglich. Die Anlage glich einem Arbeitslager.

Erziehung oder Ausbildung spielten keine Rolle

Acht Stunden täglich (nur der der Sonntag war frei) ging es hinaus zum Torfstechen. Eine Schwerstarbeit, vor allem im Winter. Freistatt war mit seinen billigen Arbeitskräften ein bedeutender Wirtschaftsbetrieb für die Region. „Ich erlebte eine völlige Entpersönlichung“, erinnert sich Wolfgang Rosenkötter. Weil er relativ schwach war, wurde er gleich zum Spielball der Bruderdiakone und der stärkeren Jugendlichen. Denn das hierarchische Prinzip war so simpel wie wirkungsvoll: Die Erzieher fanden schnell die Stärksten heraus, brachen deren Willen und gestatteten ihnen Vergünstigungen. „Sie wurden zu Kapos“, sagt Rosenkötter, und setzten willig die Anordnungen der Erzieher durch – die anderen Jugendlichen folgten ihnen, zugleich misstraute jeder jedem.

„Vorm ersten bis zum letzten Tag hat keinen Tag gegeben, an dem ich nicht mit Angst aufgestanden und wieder ins Bett gegangen bin”, so Rosenkötter. Um obendrein den Sexualtrieb zu unterdrücken, seien den Jugendlichen dämpfende Medikamente unters Essen gemischt worden. Drastische Auswege seien versucht worden: Mancher habe beispielsweise Glasscherben geschluckt, um ins Krankenhaus zu kommen – um von dort fliehen zu können. Mancher habe den Suizid als letzten Ausweg genommen.

Nach seiner Entlassung absolvierte Rosenkötter beim Deutschen Roten Kreuz in Hamburg ein freiwilliges soziales Jahr, anschließend eine Krankenpflegeausbildung. Später holte er auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur nach, studierte Sozialwissenschaft und fand bei der AOK einen Arbeitsplatz. Die traumatischen Erfahrungen aus Freistatt verfolgen ihn bis heute. Beispielsweise kann er in geschlossenen Räumen nur mit dem Rücken zu Wand sitzen, nachts findet er nur bei Licht Schlaf.

Vergangenheitsbewältigung

Wolfgang Rosenkötters Bleibe in Freistatt war das Haus „Moorhort“, das heute als Gedächtnisstätte als einziges auf dem Gelände erhalten. In Freistatt betreibt heute „Bethel im Norden“ Einrichtungen für Menschen mit Behinderung, Suchtkranke und Wohnungslose. Bethel im Norden betreibt aktive Vergangenheitsbewältigung. Sie hat beispielsweise 2009 die Studie „Endstation Freistatt“ in Auftrag gegeben und die Dreharbeiten zum mehrfach preisgekrönten Kinofilm „Freistatt“ (2015) von Marc Brummund unterstützt, der großenteils auf den Erfahrungen Rosenkötters basiert. Wolfgang Rosenkötter selbst engagiert sich unter anderem als Ombudsmann in Freistatt und hält Vorträge in Schulen und anderen Institutionen. Er gehört dem Aktionsbündnis gegen Geschlossene Unterbringung an. Michael Göttsche 

 

Weitere Teile der Serie:

Serie Heimkinder II: „Das Schweigen kam den Tätern zurecht“

 

Serie Heimkinder III: Medizin ohne Mitleid

Serie Heimkinder IV: „Du bist ein Nichts“

Serie Heimkinder V: Reform von oben mit viel Druck von unten