Preisgekrönte „Herbstresidenz”

Tim Mälzer mit Altenheim-Bewohnerin Ute Westhoff. Foto: RTL


Die Dokuserie „Herbstresidenz” wurde am 9. September in der Kategorie Bestes Factual Entertainment mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgzeichnet. In der Begründung heißt es: „90 Tage, zehn Azubis, eine Mission: ,Herbstresidenz’ mit Tim Mälzer und André Dietz steht für mutiges Fernsehen am Puls der Zeit. Junge Menschen mit Behinderung werden im Altenzentrum St. Nikolaus in Bernkastel-Kues zu Alltagshelfern ausgebildet und unterstützen die Bewohner:innen mit viel Herzblut und großem Engagement. Das innovative TV-Experiment macht die Bedeutung von Inklusion, Empathie und generationenübergreifender Fürsorge sichtbar – und setzt ein starkes Signal in Zeiten des wachsenden Pflegenotstand.”

Anbei unser Bericht aus der Ausgabe 3/25:

Warum Tim Mälzer ins Heim zog

Fernsehkoch Tim Mälzer und Schauspieler André Dietz haben es wieder getan: Für eine Dokuserie im Privat-TV haben sie ein Sozialprojekt der Sonderklasse kreiert und gefilmt. Das Ziel: In 90 Tagen mit Hilfe von zehn Azubis mit Behinderungen ein Caritas-Heim in ein echtes Zuhause verwandeln.

Nein, Tim Mälzer hat es nicht gefallen, als er ganz am Anfang selbst in das schön gelegene Caritas-Altenpflegeheim in Bernkastel-Kues zog. Schon beim Einchecken habe es ich angefühlt, als müsse er seine Persönlichkeit abgeben. „Da gab es die Frage, wie viel Graubrot und ob ich Allergien habe und ob ich mit Sprudel oder ohne Sprudel trinke. Das war’s. Mehr wurde nicht gefragt“, zitierte ihn die Nachrichtenagentur dpa. Doch es blieben noch 90 Tage, um das Haus mit Hilfe von zehn Pflegeazubis mit kognitiven Beeinträchtigungen in „ein echtes Zuhause“ zu verwandeln, wie es der Schauspieler und zweite Projektpate André Dietz als Zielvorgabe ausdrückte. „Dieses Experiment wird für Deutschlands Pflegeheime alles verändern“, klingt er in der Ankündigung von „Herbstresidenz“ etwas sehr euphorisch – liegt aber auch nicht ganz falsch. Die vierteilige Dokumentation, die im März bei VOX lief und jetzt im Bezahlfernsehen (RTL+ und Apple TV) gestreamt werden kann, zeigt, wie es in Altenheimen heimischer werden kann – mit Herz und Verstand, anderem Denken und Mut zum Ausprobieren und zu Veränderungen.

Vorläufer: „Zum Schwarzwälder Hirsch”


Was machbar ist, wenn man positiv denkt und offen für Neues und andere Wege ist, zeigten Dietz und Mälzer schon 2022 mit dem Vorläufer „Zum Schwarzwälder Hirsch“. So hieß ein Restaurant, das 13 Menschen mit Down-Syndrom in drei Monaten intensiver Ausbildung lernen sollten zu betreiben. Alles vor laufender Kamera, ebenfalls als Dokuserie. „Wir wollen nicht gucken, wo sie am wenigsten falsch machen können, sondern wo sie am meisten richtig machen können“, sagte damals TV-Koch und Gastronom Tim Mälzer. Der Erfolg gab den Machern recht: Gleich zwei Grimme-Preise heimsten sie ein.
Im neuen Projekt teilen sich die Projektpaten den Schwerpunkt auf. Dietz beschäftigt sich vor allem mit den Menschen mit Behinderungen, die den Festangestellten im Heim zur Seite gestellt werden und die hier zum Alltagshelfer qualifiziert werden, um ihnen langfristig den Weg in eine Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt zu ebnen. Dietz selbst kennt den Umgang mit Behinderungen aus der eigenen Familie. Eine Tochter des 49 Jahre alten Schauspielers hat das Angelman-Syndrom, einen seltenen Gendefekt. Fernsehkoch Tim Mälzer indes legt den Fokus auf das Wohl der Heimbewohnerinnen. Er nennt den Tod seines Vaters im vorigen Jahr als Hintergrund für sein auch privates Interesse am Thema Alter und Heim. Er wolle explizit kein „Pflege-Bashing“ betreiben, betont er: „Die Leute vor Ort machen zumeist einen top Job!“ Ihm gehe es darum herauszufinden: „Wie können wir die Menschen, die täglich vor Ort alles in ihrer Macht stehende leisten, unterstützen und ihnen helfen? Wie kriegen wir es hin, dass die Arbeit des Pflegepersonals wieder wertgeschätzt wird und sich für die Pflegenden befriedigender gestaltet?“

Einmal alles „auf links drehen” – und Wohnlichkeit erzeugen


Das Team der St. Raphael Caritas Alten- und Behindertenhilfe GmbH ließ sich darauf ein, dass alles „einmal auf links“ gedreht wurde. Zunächst wurde optisch ein neues Zuhause geschaffen und mit Farbe und Pinsel Wohnlichkeit erzeugt und – wo möglich – alles ersetzt, was an ein Krankenhaus erinnerte. Sogar die Bekleidung der Pflegekräfte wurde gegen Textilien aus der Hotelbranche ersetzt – was jedoch nicht bei allen Mitarbeitenden gut ankam.


Mälzer blättert anfangs mit Bewohnerinnen in Fotoalben, fragt nach ihren früheren Berufen und Hobbys und macht etwas daraus. So bringt er einen der Bewohner – einst Bäcker – dazu, nach Jahrzehnten mal wieder Brot zu backen. „Mit anderen werden gemeinsam die Wände der Flure gestrichen, es gibt persönliche Türschilder, mehr Fotos und private Gegenstände in den Zimmern“, schildert dpa die Verwandlung. Aber wie bringt man mehr Lebendigkeit, Buntheit und Leben in den Lebensalltag? Ein Aspekt: „Menschen haben das Bedürfnis nach Stimulation“, so eine Erkenntnis der Projektpaten. Vielen fehle die Aktivierung im Alltag. Für den 54 Jahre alten Fernsehkoch und Autor Mälzer, der in Pinneberg aufwuchs und heute in Hamburg lebt, gehört unbedingt dazu: Ran an den Herd. „Ich will wieder Gerüche in der Küche haben.“ Das Kochergebnis ist dabei zweitrangig. Es geht um sinnstiftende Betätigung statt Langeweile.
Ein Beispiel: Die Situation mit dem Dosenöffner. Der Plan: Produktion von Toast Hawaii. Letztlich stehen sieben Leute um eine Dose Ananas und keiner kriegt die Dose auf. Doch es greift auch kein Helfer ein. Es dauert einfach, und am Ende klappt’s. Der Weg dahin und verschiedene Versuche, mit verschiedenen Dosenöffnern, an die Ananas heranzukommen, unterhält die ganze Station eine Stunde lang.


Nach der Anfangseuphorie: Einige KollegInnen fühlen sich überfordert

Doch es ist nicht alles rosig, das Ganze ein Prozess. Nachdem die Anfangseuphorie verflogen ist, stellt sich heraus, dass es doch einige „Ewiggestrige“ gibt, die wollen, dass alles bleibt, wie es vorher war. Eine Teamsitzung mit den Kritikern weist auf Überforderung hin. „Wir haben vergessen, die Pfleger mit auf die Reise zu nehmen“, konstatiert Mälzer. Bessere Kommunikation und Anpassungen sollen helfen. Für die behinderten Pflegeazubis wird eine Aufgabenbox geschaffen, aus der morgens Aufgabenkarten gezogen werden. Die Kochaktionen werden angepasst: kreiert werden nur noch einfache Gerichte, und das nachmittags, wenn mehr Zeit ist.

Den Einsatz der Alltagshelfer mit Behinderungen wertet André Dietz als vollen Erfolg. Als größte Herausforderung bezeichnet er „das Niederreißen alter Denkmuster“. Als großer Gewinn erweist sich die authentische Art und Frische der Menschen mit Behinderung. So lässt „Azubine“ Sarah nicht locker, um einen Ausflug für die alten Bewohnerinnen durchzusetzen – der erste Ausflug nach fünf Jahren. Während die festen Angestellten oft aus Angst zögern, weil etwas schiefgehen könnte, sieht Sarah nur ihr Ziel – und alle landen im Automuseum.

Medikamente werden bald kaum noch nachgefragt


Ein erstaunlicher Beweis für den Erfolg des Gesamtprojekts: Die Bedarfsmedikation, vor allem Schmerzmittel, wird bald kaum noch nachgefragt.
Und was bleibt vom Ganzen? Viel. Neun Menschen mit Beeinträchtigung, die dafür eigens an die Mosel gezogen waren, haben im Altenzentrum St. Nikolaus die Qualifizierung zu Alltagshelfern erfolgreich absolviert und das Angebot erhalten, weiter in der Einrichtung zu arbeiten. Aktuell arbeiten fünf von ihnen in verschiedenen Bereichen, nicht nur im Wohnbereich, sondern auch in der Tagespflege und in der Küche. „Die Menschen mit Beeinträchtigung bereichern das Leben und Arbeiten in unserer Einrichtung ungemein. Sie haben einen besonderen Zugang zu den dementen Bewohnerinnen und Bewohnern und nehmen sich Zeit, um mit ihnen zu kommunizieren“, sagt Manfred Kappes, Leiter des Altenzentrums St. Nikolaus.


Es könne zwar kein Personal eingespart werden, aber das Pflege- und Betreuungspersonal werde entlastet sowie das neue Hausgemeinschaftskonzept in verkleinerten Wohngruppen mit jeweils zehn bis zwölf Bewohnerinnen und Bewohnern unterstützt. Die Veränderungen sollen nun auf die anderen Wohnbereiche übertragen werden. „Das Projekt hat uns gezeigt, was alles möglich ist, wenn man mutig neue Wege geht.“


Und Tobias Möllney, Pressesprecher bei St. Raphael Caritas Alten- und Behindertenhilfe GmbH, berichtet: „Aufgrund der guten Erfahrungen im Altenzentrum St. Nikolaus haben wir Anfang des Jahres ein weiteres Projekt in unserem Altenzentrum St. Johannes in Mayen gestartet. Hier arbeiten aktuell acht Beschäftigte mit Beeinträchtigung aus unseren Caritas-Werkstätten und werden vom Weiterbildungszentrum an der Pflegeschule Daun ausgebildet und angeleitet.“ Anke Hinrichs