Der Weg dahin war steinig und verlief in Etappen. Die psychische Erkrankung ihres Sohns warf Martia Lamparter anfangs fast aus der Bahn und hat sie selbst verändert – heute kann sie gut damit leben. Was ihr als Mutter dabei geholfen hat und über ihre Arbeit als Angehörigenberaterin berichtet sie im Rahmen unserer Serie „Hausbesuch”.
Das kleine alte Reihenhaus liegt in Hamburg-Ottensen. Es ist Nachmittag, und der Tisch mit dem feinen Teegeschirr ist opulent mit Kuchenteilen bestückt. Wir fangen wie immer ganz von vorn an: 1952 geboren, wuchs Marita in einem kleinen Dorf in Westfalen auf, in einer katholischen Familie und mit 7 Geschwistern. Marita besucht erst mal die Volksschule, lässt sich von der 68er-Bewegung beeinflussen. Wird „nach vorne geschoben“, wie sie sagt, und klettert den 2. Bildungsweg hoch, studiert Germanistik und Geschichte, erst in Bielefeld, dann in Hamburg. Nach dem Studium wird sie erstmal Mitarbeiterin bei den Hamburger Grünen, dann fasst sie in der Weiterbildung Fuß.
Am Anfang ist die Hoffnung groß …
Ab dem Jahr 2000 dringt die Krankheit in ihr Leben, die Psychose des Sohns nimmt einen lehrbuchmäßigen Verlauf. Beginn mit auslaufender Pubertät und Stimmenhören. Am Anfang ist die Hoffnung groß, dass es bei einer Episode bleiben würde. Doch es wurde ein großer Einschnitt. „Man stellt sich total in Frage und gibt sich selbst die Schuld, und man bewertet die Vergangenheit auf einmal anders.“ Das Schlimmste sei gewesen, „als ich irgendwann merkte, dass die Erkrankung bleibt“.
Die erste Klinik entlässt den Sohn zu früh und macht es der Mutter schwer: „kein Verständnis, wenig Informationen“, sagt sie: „Ich habe manchmal auf dem Parkplatz im Auto gesessen und geheult.“ Sie fühlt sich als Mutter angeklagt: „Man hat das Gefühl, man kriegt es doppelt ab.“ Hilfe in dieser ersten Zeit, in der alles eine Schwere bekam, boten Elterngespräche, die sie und ihr Mann, der Psychoanalytiker Ulrich Lamparter, mit einem Therapeuten führten. Er ermuntert Marita, Auszeiten zu nehmen. Sie folgt dem Rat und tritt in einen Chor ein, bekommt für wichtige zwei Stunden in der Woche den Kopf frei. „Lasst nicht zu, dass Euer Haus ein Trauerhaus wird“, hatte sie ganz am Anfang eine Bekannte beschworen. Sonst bekommt der Erkrankte das Gefühl vermittelt: „Wegen Dir sitzen wir hier wie Trauerklöße.“
Die Wende kam mit dem UKE und der richtigen medikamentösen Behandlung
Die „große Wende“, wie sie sagt, kam 2008 mit dem UKE und der richtigen medikamentösen Behandlung: Dort kann der Sohn ein ganzes halbes Jahr bleiben, bis eine geeignete Einrichtung gefunden wird. Und dort tritt der Glücksfall ein, den sie später auch als Beraterin immer wieder erlebt: dass zur richtigen Zeit die richtige Person auftritt. In diesem Fall war es die Familientherapeutin Anna Gwildis. Die schnappt sich eines Tages den jungen Mann und fährt mit ihm ins Kooghaus nach Brunsbüttel. „Wenn es Dir gefällt, bleibst Du, sonst nicht“, sagt sie. Er bleibt in Dithmarschen, wo er bis heute in der sozialpsychiatrischen Einrichtung lebt. Erst in einer WG, heute wohnt er selbstständig in eigener Wohnung. Mit festem Stundenplan und Anbindung an viele Angebote, die die Einrichtung bietet: von Bauernhofprojekt über Segeln bis zur Hundegruppe. „Das Koog-Haus war der Durchbruch“, resümiert Marita Lamparter. Hier sei er zufrieden.
Sieben Jahre wirkt sie als Sprecherin des Angehörigenbeirats
Auch den Eltern geht es dadurch besser. Es lastet nicht mehr alles auf ihren Schultern. Die Verantwortung für die Medikation zum Beispiel und der „Formularkram“ und die scheinbare Aussichtslosigkeit der Lebensperspektive. Für das Angebot der Einrichtung wünscht sie sich allerdings noch mehr, nämlich mehr „richtige“ Tätigkeiten und eine Einbindung in das Stadtleben, z.B. mit Hilfstätigkeiten der Bewohner im Bereich Stadtgrün. Aber: „Da gibt es jedoch viele rechtliche und versicherungstechnische Hindernisse“, bedauert sie.
Sieben Jahre fungiert sie als Sprecherin des Angehörigenbeirats in der Einrichtung. Zu den Treffen reist sie regelmäßig aus Hamburg per Bahn und Bike an, ab Glückstadt radelt sie an der Elbe entlang. Das sorgt für Entspannung, wenn es Konflikte gab. Hauptthema der letzten Jahre unter den Angehörigen: das Bundesteilhabegesetz. Insbesondere die Prämisse des neuen Gesetzes: „Nicht das Wohl, sondern der Wunsch des zu Betreuenden entscheidet. Scheitern ist erlaubt.“ Wie weit darf das Scheitern gehen, fragt sie, „wenn der zu Betreuende drei Tage nicht nach Hause kommt? Gibt es nicht auch eine Fürsorgepflicht?“ nennt sie als Beispiel für die Fragen, die sich Angehörige stellen. „Ich unterstütze Autonomie, aber persönlich habe ich oft das Gefühl, dass wir von einem Extrem ins andere fallen“, sagt sie. Ihr Beispiel: „Früher durften die Menschen unter Betreuung kein Konto führen, jetzt müssen sie selbst ein Konto führen.“
„Da ist was von meinen Schultern abgefallen”
Über das Koog-Haus und den Kontakt zu dem dort ebenfalls aktiven ehemaligen Vorsitzenden des Angehörigenverbands Hans Jochim Meyer bahnt sich dann wieder etwas Neues in ihr Leben: Sie besucht eine Veranstaltung, in der Thomas Bock die ExIn-Ausbildung zu Genesungsbegleitern vorstellt, die bald um einen ersten ExIn-Kurs für Angehörige ergänzt wird. Sie wird eine der ersten Teilnehmerinnen. „Einfach nur toll, ganz große Klasse“ sei die Zeit gewesen. „Als wenn die inneren Schrauben sich ein bisschen anders eingestellt hätten.“ Inwiefern? „Ich glaube, ich hatte keine Schuldgefühle mehr. Da ist was von meinen Schultern abgefallen.“
Anschließend berät sie Angehörige in der Rissener Psychiatrie. Sie sieht, wie es andere machen – oder nicht machen. „Der Blick hat sich geweitet.“ Sie guckt sich viel von den Profis ab. Zum Beispiel? „Nicht Druck machen im Gespräch, nicht nur abfragen mit vorwurfsvollem Unterton, hast Du deine Tablette schon genommen, hast Du schon geduscht? usw. Dann fühlt sich der Betroffene nur noch als Mängelwesen, der nichts richtig macht.“ Besser sei es, nicht Ansagen, sondern Vorschläge zu machen. So wie: „Was hälst Du davon, heute Nachmittag einen Spaziergang zu machen?“ Und: Zeit zur Entscheidung geben.
„Angehörige wollen gehört und einbezogen werden, sie wollen das Richtige machen, Genesung unterstützen“, so ihre Erfahrung aus der Angehörigenberatung. Ein großes Problem: Immer wieder gebe es Klagen über zu frühe und nicht geplante Entlassungen: „Angehörige werden oft gar nicht über Entlassungen informiert! Realistische und abgestimmte Anschlussperspektiven fehlen“, kritisiert Marita Lamparter.
Je besser es ihr ging, desto besser und unbelasteter habe sie sich im Kontakt zum Betroffenen gefühlt. Sie verliert an Anspannung. Und gewinnt Leichtigkeit. Die Erfahrung der Entlastung teilt sie auch mit den anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Ausbildungsgruppe, die sich bis heute einige Male im Jahr treffen. „Der ExIn-Kurs war ein Gewinn für alle.“
„Mach’ es, so gut Du kannst.”
Was ist besonders wichtig, von dem, was sie gelernt hat? Eine befreundete Ärztin habe ihr zu Beginn mal gesagt: „Du kannst jetzt nicht alles richtig machen. Mach’ es, so gut Du kannst.“ Geholfen hat ihr dabei Wissen. „Man muss sich informieren und auseinander setzen. Wenn man die Krankheit ein bisschen versteht, wird der Umgang leichter.“ Das habe sie auch bei der Peerberatung festgestellt. „Alle sind immer so verzweifelt. Aber mit Verzweiflung kommt man nicht weiter.“ Was würde sie aus heutiger Sicht anders machen? „Ich wäre vielleicht geduldiger“, sagt sie. „Genesung dauert. Die Zeit läuft anders bei psychischen Erkrankungen.“
„Die Zeit läuft anders bei psychischen Erkrankungen”
Vor ein paar Jahren hat sie wieder einen neuen Ansatz zum Verständnis gefunden. Lernt wieder. Die Germanistin, die auch selbst Geschichten schreibt, widmet sich nun der Krankheitsbewältigung bekannter Schriftsteller, die auch Angehörige sind: So wie Peter Handke, Heinz Strunk, zuletzt James Joyce als Vater einer kranken Tochter. Sie plant auch eine Buchveröffentlichung dazu. Hat sie sich denn in dem Vater James Joyce wiedergefunden? „Total“, sagt Marita Lamparter. „Weil
er diese Bandbreite hatte: Verleugnung, Verdrängung, zwischendurch hyperaktiv, Verzweiflung. Dann sind wieder die anderen schuld, die Ärzte schlecht … “
„Die Literatur hat mir sehr geholfen“, sagt sie. „Ich habe mich dadurch verändert, ich wurde aufmerksamer, bin auch für leisere Töne offen.“
Anke Hinrichs
(Erstveröffentlichung im EPPENDORFER 4/25)