Geht es auch
ohne Gewalt?

Keine Gewalt – dieser Wunsch war Ausgangspunkt des trialogischen Fachtags in Kiel. Collage: Heckmann

Medikamente, geschlossene Türen, Fixierungen: Gewalt in der psychiatrischen Versorgung ist mit starken Assoziationen verbunden. Geht es ohne? Raus aus dem Tabu, hin zu Veränderungen, das ist der Ansatz des Trialogischen Fachtags in Kiel, den das ZIP (Zentrum für Integrative Psychiatrie) am Universitätsklinikum, das Kieler Fenster (ambulante und aufsuchende Hilfen) und der schleswig-holsteinische Landesverband Psychisch-Erfahrener gemeinsam organisierten.

KIEL. Betroffene, Angehörige, Profis – das Spektrum der Teilnehmer des Trialogischen Fachtags war groß. Rund 80 Teilnehmende hatten ganz unterschiedliche Erfahrungen – aber ein gemeinsames Bedürfnis: Es müsse sich etwas bewegen. Kommunikation und Austausch sind der Anfang, Ziel aber andere Versorgungsstrukturen, ein anderer Umgang. Was aber versteht der Einzelne unter Gewalt und was fehlt? Dazu drei Fragen an PD Dr. Christian Baier, Oberarzt am ZIP, Markus Hör, Fachpfleger für Psychiatrie, tätig in der Tagesklinik des Kieler Fensters, sowie Thomas Bartels vom Landesverband Psychiatrie-Erfahrener SH.

Was verstehen Sie unter Gewalt?

DR. CHRISTIAN BAIER: Gewalt ist, wenn ich einen Menschen gegen seinen Willen auf einer psychiatrischen Station einsperre, Gewalt heißt, dass auf einen Menschen dergestalt Einfluss genommen wird, dass ein ausgesprochenes oder unausgesprochenes Bedürfnis missachtet wird. Gewalt ist nicht automatisch böse oder schlecht. Aber Gewalt stellt immer eine schwere Beeinträchtigung für die Betroffenen dar. Deshalb muss die Anwendung von Gewalt immer kritisch reflektiert und diskutiert, Sinn und Notwendigkeit hinterfragt werden. Und da kann die gleiche Gewalt unabhängig von Patienten, Krankheitsbild und Situation individuell durchaus sehr unterschiedlich zu bewerten sein. Eine besondere Form der Gewalt ist die Aggression. Ich erwarte von Mitarbeitern im Gesundheitssystem, dass keine Aggression gegen Patienten ausgeübt wird. Aber man kann auch von den uns anvertrauten Patienten erwarten, dass von ihnen keine Aggression im Sinne eines gezielten Schädigungswunsches ausgeht.

THOMAS BARTELS: Gewalt ist auch immer eine Machtfrage. Und wir erleben bei den Betroffenen ein großes Tabu, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Auch aus Angst vor Repressalien im Fall einer erneuten Behandlung in einer der kritisierten Einrichtungen.

MARKUS HÖR: Ich habe sieben Jahre auf der geschlossenen psychiatrischen Akutstation gearbeitet, meine erste Arbeitsstelle nach der Ausbildung. Die Erfahrungen berühren mich aber mit Abstand betrachtet sogar noch mehr als damals. Die meisten Patienten, die wir betreut haben, waren mit einem richterlichen Beschluss wegen Fremd- oder Eigengefährdung unfreiwillig untergebracht. Damit habe ich direkt an freiheitsentziehenden Maßnahmen mitgewirkt. Man lernt schnell, auf die Doppeltür, die als Schleuse fungiert, aufzupassen, sicherzustellen, dass Patienten nur raus dürfen, wenn es abgesprochen ist. Damit hindere ich Menschen daran, die Station zu verlassen. Das ist Macht. Macht ist auch, das Telefon eines Patienten einzuziehen, alle Kontakte zu unterbinden. Gleichzeitig muss ich versuchen, eine tragfähige Beziehung aufzubauen, auf Ängste, Befürchtungen und Nöte eingehen. Beispiel Fixierungen: In der Umsetzung sind Pflegekräfte hauptverantwortlich beteiligt und müssen einen enormen Mix an Fähigkeiten anwenden.

Wo wird es für Sie in der momentanen Praxis besonders kritisch?

MARKUS HÖR: Bleiben wir bei den Fixierungen. Da ist ein Mensch in fast allen Aspekten von den zuständigen Mitarbeitern abhängig. Neben der standardmäßigen Überwachung zur Sicherheit des Patienten brauchen sie vor allem eine intensive Betreuung. Das ist eine extrem personalintensive Aufgabe mit hohen fachlichen Anforderungen. Für 18 Patienten galt eine Mindestbesetzung von zwei Pflegekräften, viel zu wenig. Wenn ich das mit einer Intensivstation in der Körpermedizin vergleiche, ist dort eine Pflegekraft für maximal drei Patienten verantwortlich. Dabei ist die geschlossene Station in der Psychiatrie doch eine psychiatrische Intensivstation.

CHRISTIAN BAIER: Ein Problem ist nicht nur die Verknappung der Versorgungsstrukturen. Ein anderes Problem ist, kurz gesagt, dass Ohnmacht auf Macht trifft. Dazu kommt die Angst. Gewalt erzeugt Gegengewalt, Angst macht Angst. Daher bilden wir uns weiter im Deeskalationsmanagement, suchen nach räumlichen Verbesserungen.

THOMAS BARTELS: Zu sagen, dass die Gewalt in der Psychiatrie der Überlastung, dem Zeitmangel, der Überforderung geschuldet ist, ist nicht falsch, aber zu einfach. Auch das Personal muss bereit sein, sich selbst zu hinterfragen.

Was ist für Sie ein Ziel?

CHRISTIAN BAIER: Ich möchte, dass wir uns darüber klar werden, dass wir alle ein gemeinsames Interesse haben: das Wohl unserer Patienten. Und dass wir dort an einem Strang ziehen. So ein gemeinsamer Fachtag ist der Anfang, um uns als Betroffene, Profis, Betreuer, Angehörige besser zu verstehen und gemeinsam Stellhebel zu finden, die wir noch nicht bedacht haben. Und ich wünsche mir mehr Reflektion; einen gesellschaftlichen Konsens, dass diese Versorgung Ressourcen braucht, Geld, Personal und auch die Anerkennung unterschiedlicher Lebensmodelle. Ein Beispiel wären für mich die Weglaufhäuser in Berlin, das Weddinger Modell.

MARKUS HÖR: Gute psychiatrische Pflege braucht hohe soziale Kompetenzen und kommunikative Fähig- keiten, eine Personalbesetzung, die bei Bedarf auch eine intensive 1:1-Betreuung zulässt. Aber sie braucht auch die Möglichkeit zur Regulation der eigenen Gefühle, Angebote für sekundär traumatisierte Mitarbeiter (auch präventiv), eine standardmäßige Nachbesprechung von Gewalt im Team als Form der Fehlerkultur aber auch mit dem Patienten. Und wir sollten nachdenken, ob eine Psychiatrische Klinik auch ohne geschlossene Station auskommt. 20 solcher Kliniken mit Versorgungsauftrag in Deutschland schaffen das. Und machen damit sehr gute Erfahrungen.

THOMAS BARTELS: Eine gute und damit auch eine gewaltarme psychiatrische Versorgung braucht mehr Ressourcen, gefühlt wird eine apparative Medizin gut bezahlt, Gespräche aber nicht. Und ich wünsche mir, dass wir gemeinsam unsere Belange stärker in die Öffentlichkeit tragen. Die „Woche der seelischen Gesundheit“, die voraussichtlich im Oktober 2018 wiederholt werden soll, ist da ein Anfang. Weitere Infos: www.kieler-fenster.de

Annemarie Heckmann