Überleben nach einem Genozid

Ein Mann sttreiftEin Mann streift durch die Gerge von

Der Völkermord an den Jesiden im Irak durch den sogenannten „Islamischen Staat“ ist bereits mehr als zehn Jahre her, beschäftigt aber auch in Deutschland immer wieder die Gerichte. Auf der Jahrestagung der „Deutschen Gesellschaft für Trauma und Dissoziation“ (DGTD e.V.) * in Dresden berichtete Prof. Dr. Dr. Jan Ilhan Kizilhan von seiner therapeutischen Arbeit mit schwer traumatisierten jesidischen Mädchen und Frauen, die versklavt und immer wieder vergewaltigt wurden und von Baden-Württemberg im Rahmen eines Sonderkontingents 2015 und 2016 aufgenommen wurden.

Das abgrundtief Böse sitzt derzeit vor dem Oberlandesgericht München auf der Anklagebank: ein irakisches Ehepaar, dem vorgeworfen wird, als Mitglied der Terrorbande „Islamischer Staat“ zwei jesidische Mädchen, fünf und zwölf Jahre alt, als Sklavinnen gekauft, ausgebeutet, misshandelt und immer wieder vergewaltigt zu haben. Die Anklage lautet auf Völkermord. Laut Staatsanwaltschaft habe die Ehefrau für die Vergewaltigung eines der Mädchen das Kind sogar geschminkt. Prof. Jan Ilhan Kizilhan, seit 2016 auch Dekan des Instituts für Psychotherapie und Psychotraumatologie an der Universität Duhok in der kurdischen Region des Irak, hat dort im Rahmen seiner Arbeit tausende solcher Berichte gehört. Einige mutete er auch den Zuhörern zu, um die Dimension der Verbrechen und die Schwere der Aufgabe für die Therapeuten zu verdeutlichen.

„Die Situation der traumatisierten Überlebenden des IS-Genozids in Deutschland und dem Irak”


Die Überschrift zu seinem Vortrag „Die Frauen, die den ,Islamischen Staat’ besiegten: Zehn Jahre nach dem Sonderkontingent – Die Situation der traumatisierten Überlebenden des IS-Genozids in Deutschland und dem Irak“ hatte Kizilhan, der auch am Institute for Transcultural Health Science der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Stuttgart lehrt, bewusst gewählt. Denn ihre Resilienz und ihr Willen, trotz der erlittenen Traumata ein Leben in Deutschland aufzubauen, ist mehr als nur bewundernswert. Viele der 1100 Aufgenommenen, zu denen auch Jungen im Kindesalter gehörten, hätten sich integriert und in Baden-Württemberg eine zweite Heimat gefunden, so der transkulturell forschende Traumatologe.

Viele der 1100 Aufgenommenen haben sich inzwischen integriert


Die entmenschtlichte sexualisierte Gewalt gegen jesidische Mädchen und Frauen im Irak und Syrien – sie wurden auf Märkten verkauft – habe gezeigt, wie grausam Menschen andere Menschen behandeln können, so Kizilhan. Folge könne deren jahrzehntelange Traumatisierung sein – auch des Kollektivs, dem sie angehören. Die Jesiden sprechen von 74 Genoziden, denen sie in ihrer Geschichte ausgesetzt waren – über Generationen wurden diese Traumata immer wieder weitergegeben, auch bei den Jesiden, die schon seit Jahrzehnten in Deutschland leben. Aber es gebe offenbar auch eine Ressourcenweitergabe bei Völkern mit Genoziderfahrung, so Kizilhan, die Jesiden waren durch die historischen Narrative der Genozide vorbereitet. „Auf Epigenetikseite gibt es auch die Resilienz der Community, die weitergegeben wird und die es ermöglicht, zu überleben.“

Fünf Phasen der Traumata


Kizilhan benannte die fünf Phasen der Traumata: die ersten beiden Phasen waren die Besetzung und der Beginn des Terrors ab August 2014 und darauffolgend Deportation, Geiselhaft, Hinrichtungen (aller Männer), Vergewaltigungen, die Trennung von Eltern und Kindern und der Drill der Jungen zu Kindersoldaten. Nach der Befreiung (Phase 3) folgte das Leben in Camps vor Ort und letztlich jenes in Deutschland. „Diese Phase ist die wichtigste zur Heilung von Traumata. Für die langfristige psychische Gesundheit der Traumatisierten ist nicht unbedingt und immer der Schweregrad der ersten beiden traumatischen Phasen entscheidend, sondern die Versorgung nach dem Trauma.“

Kizihan sollte herausfinden: Wer erfüllte die Kriterien, wer war behandelbar?


Kizilhan erhielt den Auftrag, in den Nordirak zu gehen und in den menschenunwürdigen Camps Frauen und Mädchen zu untersuchen um herauszufinden, wer für die Behandlung in Deutschland geeignet war. Wer erfüllte die Kriterien, wer war behandelbar? Was er dort hören musste, war furchtbar: „Auch acht- bis neunjährige Mädchen wurden monatelang vergewaltigt, viele andere waren zu der Zeit noch in der Hand des IS.“ Die Zahl der Suizide war hoch. Damals habe es aber eine große Ergriffenheit, Sympathie und Unterstützung in Deutschland gegeben. Vor Ort wurden Weiterbildungen initiiert, und als die Frauen und Kinder eingeflogen wurden, waren die Einrichtungen schon fertig. Er hatte aber auch Gelegenheit, mit den Schlächtern zu sprechen, etwa einem Bosnier, der immer mehr Spaß am Köpfen von Menschen entwickelte: Erst habe er noch die Sorge gehabt, sich beim Enthaupten zu blamieren, später verspürte er fast eine sexuelle Befriedigung. Eher habe er Mitleid, einem Huhn den Kopf abzuschlagen als einem Jesiden oder Christen, ließ er wissen.

„Ein Mädchen ist 15 Mal am Tag in Ohnmacht gefallen.“

Jesiden leben in einer patriarchalischen Gemeinschaft. Zunächst musste mit diplomatisch-therapeutischen Gesprächen dafür gesorgt werden, dass die vergewaltigten Frauen nicht aus der Gemeinschaft ausgestoßen werden, so Kizilhan. Das gelang, ein Hohepriester hob ein 1200 Jahre altes Paradigma auf. Kinder, die aus einer Vergewaltigung entstanden sind, werden von den Jesiden aber nicht akzeptiert. „Es gibt Frauen, die ihre Kinder verlassen haben und solche, die daran verzweifeln.“
Bei ihrer Aufnahme litten alle Frauen unter einer psychischen Erkrankung, die meisten unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Dissoziative Krampfanfälle waren häufig, viele erlebten die Vergewaltigungen, verbunden mit traditionellen Schamgefühlen, immer wieder. „Ein Mädchen ist 15 Mal am Tag in Ohnmacht gefallen.“ Die Ängste waren groß, alles noch einmal erleben zu müssen. Kizilhan schilderte den Fall einer Frau, die sich im Flüchtlingslager im Nordirak aus Angst vor der Rückkehr der IS-Kämpfer verbrannte, um sich hässlich zu machen. „Diese Frau hat inzwischen 280 Operationen hinter sich.“ In Deutschland tritt sie auf Veranstaltungen auf und erzählt ihre Geschichte. Ein Wandel habe in der Gemeinschaft eingesetzt, so Kizilhan, Frauen seien jetzt Sprecherinnen der Jesiden und nicht mehr die alten Männer. So wie Nadia Murad, die zusammen mit ihrer Schwester im Rahmen des Sonderkontingents nach Baden-Württemberg kam und 2018 für ihre Menschenrechtsarbeit den Friedensnobelpreis erhielt.

Auch für die TherapeutInnen war die Belastung hoch


Ziel der Therapien der Jesidinnen war auch eine Stärkung ihrer Identität. „Die Kunst ist es, ihre Ressourcen wiederzufinden und zu nutzen. Wir wollen auch den Begriff Opfer nicht mehr verwenden, sie haben einen Willen und sind Überlebende.“ In den Camps hätten sie auch miteinander gelacht, über die Hässlichkeit der IS-Männer etwa. Eine Veränderung des religiösen Glaubens durch die erlebte IS-Gewalt habe es bei befragten Frauen nicht gegeben, so Kizilhan. Über 53 Prozent erklärten sogar, ihr Glauben sei gestärkt worden. Es gab natürlich aber auch Rückschläge, so etwa, wenn zwar individuelle Symptome reduziert werden konnten, die Patientinnen aber durch Symptomverschiebungen nach einem Jahr wieder in die Therapie kamen. Auch für die Therapeuten war die Belastung hoch mit drohender Sekundärtraumatisierung oder Burnout, Dolmetscher konnten die furchtbaren Schilderungen teilweise nicht aushalten und warfen hin.


250.000 bis 300.000 Jesiden leben im Nordirak noch in Camps, ihre Lage ist angesichts der Machtkämpfe in der Region hoffnungslos. 2600 Männer und Frauen werden weiterhin vermisst, die Infrastruktur in Shingal ist zerstört und die „IS-Nachbarn“ kehren zurück. Dennoch werden auch Jesiden wieder aus Deutschland in den Irak abgeschoben, so Kizilhan, wenngleich auch nicht die aus dem Kontingent. Für die Jesidinnen in Deutschland eine belastende Situation. Positiv sei aber, dass an der Universität in Duhok mittlerweile PsychotherapeutInnen ausgebildet werden. „Wir wollen, dass irgendwann die Jesiden das Institut leiten und nicht wir.“ Michael Freitag

(Originalveröffentlichung im EPPENDORFER 4/25)