Wie Hamburg krankheitsbedingte
Gewalt verhindern will

Im Fachzentrum Altona: Dr. Ulf Künstler, Chefarzt der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie am Asklepios-Westklinikum in Rissen. Foto: Hinrichs

An welchen Stellschrauben Hamburg jetzt dreht, um die Psychose-Behandlung zu verbessern,
den Maßregelvollzug zu entlasten und Straffälligkeit vorzubeugen

Die Not nimmt zu. Subjektiv betrachtet begegnet einem auf der Straße zunehmend mehr Elend, speziell im Umfeld von Hotspots wie Bahnhöfen – und viele der Menschen in schwierigen Situationen sind psychisch beeinträchtigt, wobei beides sich oft gegenseitig verstärkt bzw. hochschaukelt. Zugleich ist die Versorgung trotz Ausweitung der Bettenzahl offenbar nicht gut genug: Immer mehr Menschen in Hamburg werden zwangsuntergebracht, weil die Gefahr bestand, sie könnten sich selbst oder andere erheblich schädigen bzw. weil sie in Konflikt mit Polizei oder Gesetz kamen. Wegen Mängeln der Allgemeinpsychiatrie und in der Vor- und Nachsorge von Kranken, deren Symptome zu Gewaltausbrüchen führen können, ist der Maßregelvollzug übervoll; hier stieg die Zahl der Plätze seit 2015 um fast 30 Prozent.

Zugleich wächst die Angst der Bevölkerung im Zuge der Berichte über Messerangriffe, wie zuletzt am Hauptbahnhof. Während psychisch Kranke selbst prozentual überhäufig Opfer – auch von Polizeischüssen – werden. Kurzum: Das Thema Forensik ist eines der drängendsten Probleme – und nimmt daher zu Recht einen wesentlichen Schwerpunkt im Hamburger Psychiatrieplan ein. Was sich hier wie verbessern und verändern soll und was sich hinter dem Namen KAPPA (Kontinuierliche Allgemeinpsychiatrische Prä- und postforensische Psychosebehandlung in Altona) verbirgt – darüber sprachen wir am Beispiel des Bezirks Altona mit dem Chefarzt der für den Sektor zuständigen Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie am Asklepios-Westklinikum in Rissen, Dr. Ulf Künstler.

So komplex das Problem, so komplex die Antwort: Im Prinzip geht es darum, Menschen, denen Maßregel droht, und solche, die nicht aus der Forensik herauskommen, weil es keine Folgeeinrichtung gibt, aufzufangen und in die Allgemeinpsychiatrie zu integrieren.

Soteria-Konzepte, forensische Institutsambulanz und Hometreatment


Mit Soteria-Konzepten sollen z. B. vor allem Jüngere vor dem Beginn einer forensischen Karriere bewahrt werden. Dazu kämen die Planung einer dezentralen forensischen Institutsambulanz (FIA). Und als Partner des UKE das Projekt SAFE, das der Reduktion der Straffälligkeit und forensischen Entwicklung dienen soll und auf fACT (Forensic Assertive Community Treatment) basiert. Das ist ein spezielles Behandlungs- und Betreuungsmodell für Menschen mit erhöhtem Risiko für kriminelles Verhalten, das Patienten intensiv und auch aufsuchend – zuhause oder auch auf der Straße – betreut. Dies soll kombiniert werden mit einer von der Behörde betriebenen Präventionsstelle, die Betroffene, Angehörige und Fachkräfte im Umgang mit zu Gewalt neigenden Kranken einschließlich Risiko-
einschätzung beraten soll. Angesiedelt wird das Angebot in der Repsoldstraße. Alles überschneide sich, erklärt der Chefarzt weiter, und greife ineinander. Insgesamt gehe es darum, ein Netz zu knüpfen mit dem Ziel, Forensifizierung aufzuhalten.

Angebot soll so breit wie möglich gefächert werden


Künstler ist überzeugt, dass die damit verbundenen Probleme und Herausforderungen soweit wie möglich im Sozialraum gelöst werden sollten. Und damit eben auch und jetzt vorrangig die mangelhafte Versorgung von Patienten mit Schizophrenie, insbesondere solchen mit Neigung zu Gewalt. Es gehe dabei darum, das Angebot für Psychosekranke so breit wie möglich „zu fächern“. Am Anfang steht dabei die aufsuchende Straßensozialarbeit von fördern & wohnen, die am Bahnhof Altona bereits seit Ende 2023 einmal wöchentlich von einem Arzt und Psychologen begleitet wird, die Menschen ansprechen, die auf der Straße gestrandet sind und oft auch psychische Probleme haben. Darüber habe man schon eine Handvoll Klienten an eine psychiatrische Behandlung andocken können.


Dann sind da die jungen Erwachsenen mit Neigung zu Gewalt, die meist schon mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind – z.B. wegen Ruhestörung oder Verkehrsdelikten – und nach Unterbringung schnell wieder entlassen werden, da sie nicht behandlungsbereit sind. Für sie wird im Rahmen des Ausbaus der Tagesklinik Altona ein kleiner Bereich mit fünf Plätzen für eine Soteria-angelehnte Gruppe geschaffen. „Die gestalten den Tag selbst, kochen zusammen. Und werden durch ein Kernteam betreut, das in Krisen auch zu ihnen hinfahren soll“, so Künstler. Perspektivisch könnten die Patienten im Krisenfall ab 2027, so die Planung, auch wieder auf eine „richtige“ Soteria-Station in Rissen.
Die aufsuchende ambulante Arbeit wird jedoch bisher im Gegensatz zur akuten, aber unflexiblen stationsäquivalenten Behandlung (StäB) nicht als Regelversorgung von den Kassen bezahlt. Dies zu ändern sei sowohl das Ziel der Hamburger Chefärzte als auch der Behörde. Daher wird diese Versorgungsform im Projekt SAFE – und somit auch im Rahmen von KAPPA – erst mal aus dem Psychiatrieplan-Topf finanziert.

„Einstweilig” Untergebrachte sollen vor dem Maßregelvollzug bewahrt werden


Ein weiterer Ansatz der „Allgemeinpsychiatrischen Prä- und postforensische Psychosebehandlung“ von KAPPA zielt auf Klienten ab, die nach §126a StGB normalerweise „einstweilig“ im Maßregelvollzug (aktuell aber auch in der JVA) untergebracht würden, da sie wegen einer Tat auf ihre Gerichtsverhandlung warten. „Wir wollen sie in der Allgemeinpsychiatrie soweit behandeln, dass sie die Chance haben, das Gericht eventuell zu überzeugen, sie auf Bewährung und mit Auflagen zu verurteilen“, so Künstler. Letzteres könnten dann im Rahmen der Forensischen Ambulanz (FIA) z.B. Blutkontrollen oder auch Depotmedikation bedeuten – mit dem Druck, bei Verstoß doch hinter Gitter zu müssen.

Wenn aus dem „Recht auf Krankheit” eine „Maßregelkarriere” wird


„Vielen jungen Psychosepatienten ist nicht bewusst, wie schnell aus dem Recht auf Krankheit eine Maßregelkarriere folgt, die das Leben in eine ganz andere Richtung bringt“, so Ulf Künstler. „Wir wollen die Grenzen hier ein Stück weit verschieben und das therapeutische Setting einer allgemeinpsychiatrischen Station nutzen und ausloten, was möglich ist.“ Es gibt natürlich Einschränkungen für die Behandlung auf einer Akutstation in Rissen, etwa schwere Körperverletzungen und auch die Rücknahmegarantie von JVA/MRV für den Fall, dass es nicht funktioniert. Bisherige Erfahrungen mit den Patienten seien aber „sehr gut“.


KAPPA befasst sich zudem mit Patienten, die eigentlich am Ende der Maßregel stehen, die aber in der Forensik bleiben müssen, weil es für sie keinen Platz in einer geeigneten Wohnform gibt. Ähnlich wie die sogenannten „new long stay patients“ auf Akutstationen, die Monate bis zu Jahre bleiben (müssen), weil es für sie keine Anschlussunterbringung gibt. Für sie wird in Rissen eine neue, hochstrukturierte Psychosenstation eingerichtet, auf der Resozialisierung und Empowerment Hand-in-Hand gehen sollen, um vielleicht doch die geschlossene Wohnform noch zu verhindern und eine andere Möglichkeit zu finden.
„Wir bieten dann mit PIA, TK und 365d StäB, Soteria und Akutstation ein sehr umfassendes Paket an.“ Optimal wäre aber, „wenn die Gemeindepsychiatrie einen richtigen Krisendienst mit rausfahrendem Krisenteam hätte“, meint Künstler, „und Menschen in Krisen nicht gleich an eine Klinik angebunden würden.“


Reicht das, was jetzt entsteht? Eigentlich sei alles erfasst, was im Plan festgelegt wurde, um Forensifizierung zu verhindern. Was fehlt, sagt der Chefarzt, sei das Problem der Komorbidität. Die Systeme Sucht und Psychiatrie seien weiterhin getrennt in Hamburg. Die übrigen Bestandteile der Reform – Gemeindepsychiatrischer Verbund und Psychiatriekoordination – das seien alles Meilensteine. „Die Fachwelt guckt schon mit Respekt auf Hamburg.“
Anke Hinrichs (Originalveröffentlichung im EPPENDORFER 4/25)