Der Erforscher des „Feuersturms”

Hamburg, Eilbeker Weg, nach den Bombenangriffen der Operation Gomorrha. Foto: By Dowd J (Fg Off), Royal Air Force official photographer via Wikimedia Commons

In Würdigung seines lebenslangen Engagement für die wissenschaftliche Aufarbeitung des „Hamburger Feuersturms“ wurde dem Hamburger Facharzt für Psychotherapeutische Medizin und Psychoanalyse Ulrich Lamparter im Februar von der Universität der Stadt Hamburg eine Ehrenprofessur verliehen. Seit 2006 hatte Lamparter gemeinsam mit KollegInnen über 100 Interviews mit ZeitzeugInnen, deren Kindern und Enkeln geführt und die psychischen Folgen der „Operation Gomorrha“ untersucht, woraus u.a. auch ein Buch entstand. Der EPPENDORFER sprach 2018 mit Ulrich Lamparter.

Bis zu 43.000 Tote – zwei Drittel des Hamburger Wohnraums zerstört

Am Abend des 24. Juli 1943 beginnt die „Operation Gomorrha“, der anglo-amerikanische Angriff mit Hunderten von Bombern auf Hamburg. Nach zehn Tagen haben zwischen 35.000 und 43.000 Menschen ihr Leben verloren, über 125.000 sind verletzt, rund zwei Drittel des Hamburger Wohnraums zerstört. Besonders verheerend ist der Angriff in der Nacht vom 27. auf den 28. Juli, als aufgrund einer speziellen Wetterlage ein Feuersturm entfacht wird. Die Stadtteile Eilbek, Wandsbek, St. Ge-
org, Hamm, Borgfelde, Hammerbrook und Rothenburgsort werden in dieser Nacht dem Erdboden gleichgemacht, die Straßen sind übersät mit verkohlten und seltsam zusammengeschrumpften Leichen. Noch heute leiden Überlebende unter den damaligen Erlebnissen.

Und auf einmal sind die Erinnerungen wieder da …

Sommer, Sonne, Gartenparty: Der Gastgeber freut sich über eine gelöste Stimmung, Freunde und Bekannte führen angeregte Gespräche – und mittlerweile liegen auch saftige Steaks auf dem Grill. Leckere Gerüche ziehen über die Wiese. Doch einem Gast wird auf einmal schlecht. Er weigert sich, mitzuessen und verlässt früh die Festivität. Denn er hat verbranntes Fleisch gerochen, verbranntes Menschenfleisch, wie einst beim Feuersturm in Hammerbrook. Und auf einmal sind die Erinnerungen wieder da an die Schreckensnächte im Juli 1943.

Im Alter kommen die Erinnerungen oftmals wieder hoch


Der Hamburger Psychoanalytiker Ulrich Lamparter kennt diese Flashbacks. Er hat mit vielen Patienten gesprochen, die die Operation Gomorrha miterleben mussten, z.B. im interdisziplinären Projekt „Zeitzeugen des Hamburger Feuersturms und ihre Familien“, bei dem 60 Überlebende, die bei der Katastrophe zwischen drei und 27 Jahre alt waren, von Psychoanalytikern und psychodynamischen Psychotherapeuten interviewt wurden. „Ihr Trauma wurde eingekapselt, blieb aber Teil ihrer Identität“, so Lamparter. „Sie haben ins Auge des Orkans geblickt und eine Grunderschütterung erlebt. Wie ein Haus, das ein Erdbeben überstanden hat.“ Im Alter kämen die Erinnerungen, die Ängste oftmals wieder hoch. Zum einen, weil man im Alter viel über die Vergangenheit nachdenke, zum anderen durch äußere Reize. Diese können Bilder aus dem verwüsteten Aleppo sein, Kanonenschläge bei einem Feuerwerk oder eben auch Gerüche.

Typische postraumatische Symptome oder anhaltende Ängste

Entlastung erlebten diese Patienten durch Anerkennung, durch die Erfahrung, Ernst genommen zu werden, so Lamparter. „Man muss sich einfühlen, ihnen sagen, dass es wichtig ist, was sie erlebt haben, dass es heute noch Auswirkungen des Erlebten gibt und und das es gut ist, darüber zu sprechen.“ Und sie wollen sprechen, haben den Wunsch, ihre Erfahrungen weiterzugeben. Die Zeitzeugen zeigten ihm dabei gegenüber typische posttraumatische Symptome oder anhaltende Ängste. Eine Frau weinte während des ganzen Interviews still vor sich hin, andere zitterten, die Stimmen versagten. Heute spielten leider das Zeitgeschichtliche, die Lebensgeschichte in der Therapie keine Rolle mehr, eine Familienbiographie werde kaum erhoben, weil es viel Zeit koste, bedauert Ulrich Lamparter.

In der Nazizeit großgewordene Kinder wurden durch empathielose Erziehung geprägt


Der Geburtsjahrgang sei die Diagnose, so der Psychoanalytiker. Es sei ein Unterschied, ob man 1938 oder 1943 geboren wurde, wie viel man erlebt habe. Wobei die in der Nazizeit großgewordenen Kinder durch die vorherrschende schwarze Pädagogik, die empathielose Erziehung geprägt wurden. „Durchhalten, funktionieren, auf dem Posten bleiben“ sei die Devise gewesen, fasst Lamparter zusammen. Ein Zeitzeuge antwortete ihm auf die Frage, was er am Tag nach dem Feuersturm gemacht habe, er sei wieder zur Arbeit gegangen. Die harte Erziehung könne also durchaus dazu beigetragen haben, die Schrecknisse zu ertragen. Die Zeitzeugen der Katastrophe konnten weiter funktionieren, aber ihre Kinder beklagten sich später auch über fehlende Zuwendung. Die Eltern waren zwar fürsorglich, aber nicht empathisch. Lamparter: „Der Klassiker: Die Tochter sagt ihrer Mutter, sie habe eine Erkältung und es gehe ihr nicht gut. Die Antwort: Hast Du denn keinen Schal? Mir geht es auch nicht gut.“

Der engste Kontext bestehe zwischen Müttern und Töchtern


Gibt es eine unbewusste Weitergabe der Traumata an die nächste Generation? Nach seinen Erkenntnissen bestehe der engste Kontext zwischen Müttern und Töchtern, so Lamparter, hier könne ein besonderes Angstsystem übertragen werden. Er glaube jedoch nicht, dass es epigenetische Veränderungen bei den Kindern gebe. Er habe aber auch schon Kriegsenkel in seiner Praxis gehabt. „Wissenschaftlich ist es zwar offen, aber diese Menschen bezogen ihre Schwierigkeiten auf die Kriegserlebnisse ihrer Eltern und Großeltern. Sicherlich bleiben die Kriegsereignisse nicht folgenlos auf die 2. Generation, aber wir können nur bei 20 Prozent Folgen sehen.“
„Die Patienten kommen heute mit allen möglichen Symptomen, in denen das Zeitgeschichtliche steckt, nicht als Feuersturmopfer“, berichtet Lamparter. Bei einem Patienten hatten sich die Kriegserlebnisse, hier die Geräusche der nach Russland fahrenden Panzerkolonnen, mit einem Tinnitus verbunden. „Ich hab das noch im Ohr“, sagte er Lamparter immer wieder. Der HNO-Arzt hatte ihm bescheinigt, er müsse mit dem Tinnitus leben. „Damit fühlt sich der Patient natürlich nicht gut.“ Die Trennungs- und Verlusterfahrungen während des Krieges könnten auch zu Depressionen im Alter führen. „Das muss man erkennen.“

Das Trauma werde in einem Sondergedächtnis gespeichert


Das Trauma werde in einem Sondergedächtnis gespeichert, bleibe im Verarbeitungssystem hängen, so Ulrich Lamparter. Dies mache auch biologisch Sinn: Das Erlebte bleibe präsent für den Fall, dass wieder etwas ähnliches passiere und man sich schützen müsse. Psychisch erlebten sich diese Zeitzeugen nicht als krank. „Sie sehen bei sich selbst keine schwerwiegenden Folgen durch die Bombardierungserfahrung im Feuersturm.“ Man könne bei ihnen aber von einer „Grundlabilisierung“ durch das Erleben im Feuersturm mit einem „gespeicherten Entsetzen“ sprechen. Letztlich sei die Erfahrung existenzieller Ausweglosigkeit zur fundamentalen Ohnmachtserfahrung geworden.
Bei den meisten Zeitzeugen des Feuersturms wurde bei der Untersuchung eine eher „unterschwellige Traumatisierung“ festgestellt. Sie konnten nach dem Krieg trotz ihrer schlimmen Erfahrungen eine mehr oder weniger geglückte Existenz aufbauen. Doch die Erfahrung des Feuersturms schien in ihnen weiter gegenwärtig. Andere zeigten sich nicht nur durch den Feuersturm, sondern durch weitere Kriegserlebnisse wie Kinderlandverschickung oder Verluste des Bruders oder des Vaters im Krieg beeindruckt.

Michael Freitag