Heimweh nach
einer heilen Welt

Porträt von Antje Boetius in Ilulissat Grönland. Foto: AWI/Ragnar Axelsson

Für Prof. Antje Boetius sind die Netzwerke zwischen der vom Klimawandel bedrohten Natur und dem Menschen unterbrochen. Ihr Ziel beim DGPPN-Kongress*, den sie mit ihrem Vortrag „Zwischen Dystopie und Utopie: zur Beziehung von Mensch und Natur“ mit eröffnete: „Ich würde es gern schaffen, dass sie sich etwas vernetzter mit dem Eis und der Natur fühlen.“ Das gelang ihr auf sehr anschauliche Weise und indem sie nicht nur Dystopie – düstere Zukunftsvisionen – mitbrachte, sondern auch Hinweise, was die Menschheit im Kampf gegen die Klimakatastrophe immerhin doch schon geschafft hat und was jeder einzelne tun kann.

Sie selbst sieht Leben, das noch nie jemand gesehen hat, wenn sie auf Tauchgang geht, um die Tiefsee zu erforschen. Oder das Gefrorene in Arktis und Antarktis in Augenschein nimmt. Rund 50 Expeditio-
nen in 30 Jahren zählt die Direktorin des Alfred-Wegener-Forschungs-Instituts inzwischen – da fühle sie sich nicht nur als Forscherin, wenn sie immer wieder an die selben Orte kommt und Augenzeugin des umfassenden Wandels von Klima und Natur wird. Das fühle sich fast an wie Heimat. Heimat, die vor ihren Augen verschwindet, wenn sie sieht, wie ein riesiger Teil des Meereises in der Arktis verloren geht. Durch zuviel CO2, das der Mensch verbraucht und in die Atmosphäre entlässt, was zu bedrohlichem Temperaturanstieg führt.

“Wir müssen lernen, uns wieder zu vernetzen”

„Haben Sie sich schon mal ganz verbunden mit unbekannter Natur gefühlt? Wo war das? Welchen Verlust von Natur haben Sie schon erlitten“, versuchte Boetius zunächst das Publikum ins Boot zu holen. Sie zeigte Fotos von einer weißen Welt in Grönland, ein Eisbär ist zu sehen, und sie berichtete von dem riesigen Netzwerk von Algen und Tieren, das das Eis von unten belebt. „Wir müssen lernen, uns wieder zu vernetzen und das alles zu begreifen, um in ein Gleichgewicht zu kommen“, appellierte die Forscherin.
Den dystopischen Teil beschrieb sie als „Pfad des Verlustes“: 6. Massensterben von Arten, jede 8. Tier- und Pflanzenart sowie jede sechste Baumart bedroht. Nur noch 10 Prozent der kohlenstoffspeichernden Urwälder vorhanden, drohender Verlust von Korallenriffen weltweit bis 2100.

„Ohne das Gleichgewicht verlieren wir Gewohntes”


Alles mit direkten Auswirkungen auf die Menschengesundheit: Ohne das Gleichgewicht verlieren wir Gewohntes. Sie zeigte eine Temperaturen-Grafik der letzten 2023 Jahre. Zu sehen: In den letzten 20 Jahren ist es völlig aus dem Ruder gelaufen. Soweit, dass wir ein geologisches Zeitalter erreicht haben, in dem Menschen die stärkste Kraft geworden sind – stärker als Vulkane! Stickstoffüberdüngung oder Temperatur.
Wenn die Temperatur bis 2100 um 2,7 Grad steige, wie befürchtet, bedeute dies eine Veränderung der Landschaft und den Verlust von Heimat. Folge: ein Gefühl der Verlassenheit, für das der Umweltphilosoph Glenn Albrecht den neuen Begriff Solastalgie prägte. „Solastalgie heißt, Heimweh zu haben, ohne ausgewandert zu sein, also Heimweh daheim. Dies ist der radikalste Effekt der neuen klimatischen Verhältnisse: Die Klimakrise, das allgemeine Artensterben, das Sterilwerden der Landschaften machen uns verrückt“, schrieb der Anthropologe Bruno Latour.

“Heimweh haben, ohne ausgewandert zu sein”


Prof. Antje Boetius’ Dystopie endete mit einem Bild der Apokalypse, letztere in der Bibel verbunden mit Zerstörung durch Feuer, Fluten, Krankheiten…
Gegen die Erschöpfung setzt sie aber auf Aktivierung – per Utopie.

300.000 Jahre Geschichte des Homo sapiens waren nicht immer Zeiten der Zerstörung, machte sie deutlich. Die meiste Zeit war es eine Erfolgsgeschichte, pflegte der Mensch das „Netzwerk des Lebens“. Wir müssen also wieder Teil des Netzwerkes werden. Und sind dabei. „Wir sind die erste Generation von Menschen, die Staatsverträge hat.“ Und es gibt auch Beweise, dass sich jemand um die Utopie kümmert. Boetius nennt es phantastisch, dass sich die Versorgung mit Nahrung aus dem Meer in wenigen Jahren fast vollkommen auf Aquakultur umgestellt habe, das entlaste die Meere. Weiteres Beispiel für Rückgewinnung: Sie selbst sah die Finnwale zurückkommen – „in riesigen Familien“. Hoffnung mache auch die Weltbiodiversitätskonferenz mit dem Ziel, 30 Prozent von Land und Meer nachhaltig zu pflegen. Phantastisch.

Globale Lösungen für den Einzelnen oft frustrierend

Es sei aber auch schwer, etwas verloren gegangenes zurückzugewinnen. Und: Globale Lösungen seien für den Einzelnen oft frustrierend. Wichtig seien daher auch Aktionen von Einzelnen und im Kleinen: Balkon bepflanzen für Insektenvielfalt. Andere Architektur mit viel Grün. Derweil wird Stück für Stück mühsam weiterverhandelt mit dem Ziel, nicht mehr CO2 auszustoßen als die Natur selbst zurückholen kann. Immerhin. Das große Problem: Weil Ozean, Boden, Wald nichts kosten, haben Staaten, die sich besonders an ihnen bedienen, Vorteile gegenüber denen, „die sich komplizierte Konstrukte der Klimatransformation auferlegen“. Boetius spricht von der „Tragödie des Allgemeinguts“.


Deutschland verzeichnet einerseits eine Erfolgsgeschichte der regenerativen Energien und Effizienz, USA (20 Prozent) und EU (14 Prozent) trügen aber auch besonders große Anteile an den globalen Klimaschulden. Auch im Angesicht von insgesamt 8 Milliarden Menschen, von denen 4 Milliarden keinen Sozialschutz haben. „Es ist unser CO2, was die Häuser in Bangladesch wegwischt, die keine Versicherung haben.“ Es könne so nicht weitergehen, dies sei ein großes Risiko, „gegen das wir alle aufstehen müssen“, sagte die Enkelin eines Walfängers – dieser Beruf ist inzwischen verboten. Immerhin. Anke Hinrichs (Originalveröffentlichung im EPPENDORFER 1/2024)

*Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde vom 29.11. – 02.12.2023