Zu wenig und überfordertes Personal, rauer Ton, überbelegte Stationen, Patienten, die auf dem Flur schlafen müssen und Medikamente, die unter Brotbelag versteckt werden – die Reporter von „Team Wallraff – Reporter undercover“ sind bei ihren Recherchen im Akutbereich mehrerer deutscher Psychiatrien auf teils menschenverachtende Zustände gestoßen. Nie zuvor sei die Redaktion im Vorfeld einer Sendung mit so vielen Abmahnungen und anderen juristischen Androhungen überzogen, um die Ausstrahlung der Reportage zu verhindern – auch weil einer der Undercover-Reporter aufgeflogen sei, teilte der Sender mit. Bis zum Mittag des Sendetags habe die Rechtsabteilung 26 Eingaben erreicht. Daher hielt der Sender das Thema der Sendung fast bis zu Beginn der Sendung geheim.
Die neue Folge der Dokureihe „Team Wallraff – Reporter undercover“ wurde Montagabend (18. März) ausgestrahlt. 2,74 Millionen Zuschauer sahen zu. Nach Angaben des 76 Jahre alten Enthüllungsjournalisten Günter Wallraff sei man Hinweisen von ehemaligen Patienten und Zuschauern nachgegangen und habe über ein Jahr undercover recherchiert, um „zum Teil haarsträubende Missstände bei der Betreuung und Behandlung von Bewohnern aufzudecken“. Insgesamt vier psychiatrische Einrichtungen wurden undercover beobachtet – darunter auch das Vivantes Klinikum in Berlin-Spandau.
Von hier droht dem RTL-Team offenbar juristischer Ärger. Zwar räumte Vivantes gegenüber der Bildzeitung ein: „Einige Aspekte der gezeigten TV-Szenen entsprechen nicht den Ansprüchen von Vivantes an eine gute psychiatrische Versorgung. Vivantes hat daher umgehend mit der Aufarbeitung der konkreten Einzelfälle begonnen.” Diese stellten sich aber „bei genauerer Betrachtung zum Teil völlig anders dar, als in der skandalisierenden Berichterstattung von RTL suggeriert wird”, teilte das Klinikunternehmen mit. Außerdem sei die Wahrung des Patientengeheimnisses erheblich verletzt worden. „Daher wundert es nicht, wenn Dutzende der betroffenen Patientinnen und Patienten sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich darüber empören und auch rechtlich dagegen wehren wollen“, so die Vivantes-Pressestelle.
Die TV-Bilder aus dem Haus des größten deutschen kommunalen Gesundheitsversorgers sind indes erschütternd: Heimlich gedreht wurde auf einer Akutstation mit 23 Betten. Sie ist überbelegt, teils sind fünf Menschen in Vierbettzimmern untergebracht, andere Patienten müssen auf dem Flur schlafen. Es ist dreckig, als jemand in eine Ecke uriniert, dauert es Stunden, bis jemand wischt. Nach Darstellung der Undercover-Reporterin gibt es kaum Beschäftigung, die Patienten schlafen, essen, rauchen, nehmen Medikamente. „Wie Gruppenhaft”, „Psychiatrie wie sie nicht sein sollte”, urteilt der Sozialpsychiater und Buchautor Dr. Jann Schlimme, dem das Filmmaterial vorgespielt wird. Dass eine Tablette einem Patienten heimlich unter eine Wurstscheibe gelegt wird, wie der Sendung zu entnehmen ist, bezeichnet er als „Körperverletzung”.
Vorgeführt wird auch ein Klima, in dem Gewalt wächst. Ein ehemaliger Betriebsrat spricht von einer Vielzahl von Patientenübergriffen und steigenden Krankenzahlen unter den Beschäftigten. Vivantes reagierte auf die Vorwürfe mit einer sehr ausführlichen Stellungnahme (https://www.vivantes.de/unternehmen/presse/pressemitteilungen/presse-detail/news/seelische-gesundheit-und-psychiatrische-versorgung-bei-vivantes/).
Erschreckende Szenen zeigt die Sendung auch aus dem Klinikum Frankfurt Höchst. Hier stehen u.a. die Fixierungspraxis im Fokus – diese Szenen wurden allerdings vor dem Verfassungsgerichtsurteil im vorigen Jahr gedreht. Auch hier: Überbelegung, es ist sehr laut, man schreit sich an. Bei einer Chefarztvisite wird mit einem Patienten exakt 16 Sekunden gesprochen, im Stehen und im Flur. „Wenn Sie mir das nicht gezeigt hätten, hätte ich nicht geglaubt, dass es das noch gibt”, kommentiert Schlimme die Bilder aus Frankfurt und spricht von „psychiatrischer Steinzeit”: „Eigentlich müsste man so eine Station zumachen …”
Das Klinikum Frankfurt Höchst indes wies „die dargestellte, stark verkürzte und aus den individuellen Zusammenhängen sowie Krankheitsbildern gerissene Berichterstattung über die Arbeit auf der geschützten psychiatrischen Station zurück. Wir werden intern intensiv ,aufklären’ und Missständen – sollten sie vorhanden sein – vorbehaltlos nachgehen”, heißt es in einer Pressemitteilung (https://www.klinikumfrankfurt.de/service/aktuelles/aktuelles-detailansicht.html?tx_aspresse_pi1%5Bitem%5D=926&cHash=0b7b9cf08813ef26a74e92289539b4a4)
Nach einem Bericht des Hessischen Rundfunks sollen die Missstände in der Frankfurter Klinik bereits seit Jahren bekannt sein. „Der Psychiatrie-Skandal um das Klinikum Frankfurt Höchst schlägt hohe Wellen. Offenbar haben unabhängige Gutachter die jetzt aufgedeckten Missstände bereits vor Jahren dokumentiert und der Klinik mitgeteilt. Land und Stadt zeigen sich erschüttert und versprechen Aufklärung”, heißt es auf der Homepage der „Hessenschau”. (s.https://www.hessenschau.de/wirtschaft/missstaende-in-psychiatrie-klinik-in-hoechst-wohl-seit-jahren-bekannt,klinik-hoechst-mdk-100.html )
Weitere Filmsequenzen wurden in Stuttgart im Furtbachkrankenhaus gedreht. Hier wird die Frage aufgeworfen, ob dort untergebrachte alte Menschen fehlplatziert werden. Und auch hier werden Zustände sichtbar gemacht, die – zumindest in diesem Akutbereich – von der Selbstdarstellung des Klinikums auf der Homepage abweichen.
Die Sendung endet mit einem „Es geht auch anders”-Beitrag. Beispielhaft für Psychiatrien, in denen die Bedürnisse der Patienten deutlich mehr im Mittelpunkt stehen, besucht Günter Wallraff persönlich – und nicht undercover – das St. Marien-Hospitals im nordrhein-westfälischen Herne-Eickel. Die Atmosphäre hier wirkt – gerade im Vergleich zu den zuvor gezeigten Häusern – nahezu paradiesisch. Es gibt Zweibettzimmer – auch für gesetzlich Kassenversicherte. Tagsüber sind die Patienten in Therapie- bzw. Beschäftigungsgruppen. Anders als in anderen psychiatrischen Kliniken gibt es keine Akutstation, stattdessen werden die akut kranken Patienten in der Klinik verteilt, damit das durchschnittliche Krankheitsniveau möglichst niedrig ist, wie der Chefarzt der Klinik, Dr. Peter W. Nyhuis, im Interview erklärt. „Vieles ist möglich mit entsprechender Kreativität”, sagt er. Es wird mit Bezugs-Pflegern und -therapeuten sowie mit einem Konzept der offenen Türen gearbeitet.
Was muss sich in der deutschen Psychiatrie ändern, um diese zu verbessern? Geld allein helfe nicht, meint Dr. Jann Schlimme. Er fordert regelmäßig unabhängige Psychiatrie-Kontrollen.
Und was folgt juristisch? RTL-Juristin Eva Pipke rechnet laut dem Medienportal www.meedia.de „bei dem ein oder anderen Unternehmen mit einer Flut von Klagen, die sich dann jahrelang hinziehen werden”. Sie hoffe allerdings, dass „die kritisierten Einrichtungen es konstruktiv nutzen und statt das Geld für Anwälte und Klagen für sinnvolle Verbesserungen der Situationen ihrer Patienten nutzen”.
Erst im November 2018 endete ein langer Rechtsstreit vor dem Oberlandesgericht in Hamburg. Für den Beitrag „Katastrophale Missstände in deutschen Krankenhäusern” hatte das „Team Wallraff” in einer Wiesbadener Klinik des Helios-Konzerns gefilmt. Der Klinik-Konzern klagte –und siegte zunächst. Das Hamburger Landgericht untersagte im Juni 2016, das mit versteckter Kamera aufgenommene Filmmaterial erneut zu verbreiten. Erst im November 2018 revidierte das Oberlandesgericht in Hamburg dieses Urteil.
Kritik an der Machart der Sendung äußerte ein Spiegel-online-Bericht: Der Sender habe eine fehlerhafte Bildmontage eingeräumt. RTL selbst sehe darin keine Probleme, heisst es dort. Grundsätzlich, wird ein RTL-Sprecher zitiert, könne man „jede einzelne Situation lückenlos” aus dem Filmmaterial beweisen, „weil die versteckten Kameras ohne Unterbrechung durchlaufen. Dies legen wir auch – wenn erforderlich – dem Gericht vor.” (http://www.spiegel.de/kultur/tv/team-wallraff-rtl-gesteht-fehler-ein-a-1258629.htm)
Wallraff versprach, mit seinem Team am Thema „dranzubleiben”. Reaktionen auf die Sendung finden sich auf der Homepage des Senders ( https://www.rtl.de/cms/sendungen/real-life/team-wallraff.html) sowie auf Facebook.
Die Sendung dürfte auch die Debatte um die Zukunft der Psychiatrie und ihrer Personalausstattung befeuern. Der Verein Genesungsbegleitung und Peerbegleitung Hamburg (GBPH) sprach in einer Pressemitteilung von teils „verstörenden Bildern”. „Einige unserer Mitglieder haben solche und ähnliche Situationen während ihrer Klinikaufenthalte selbst erleben müssen.” Der Verein fordert eine menschlichere Psychiatrie, dazu könne der flächendeckende Einsatz von Genesungsbegleitern beitragen. (hin)
(Der Originaltext wurde zuletzt am 22. März überarbeitet und aktualisiert)
link zur Sendung: